Herrliches Musikerlebnis: „Candide“ in Hannover
„Candide“? Ist das nicht das seltsame Musical von Leonard Bernstein mit den total durchgeknallten Figuren in bescheuerter Handlung mit echt geiler Musik? Doch, ungefähr das ist es. Und genau so hat es Regisseur Matthias Davids an der Staatsoper Hannover auch sehr gekonnt auf die Bühne gebracht. Das Hauptaugenmerk wurde dabei auf das grandiose Niedersächsische Staatsorchester gelenkt, welches die zentrale Stelle der Bühne füllt und völlig zu Recht den Abend dominiert.
Die Darsteller umspielen wortwörtlich das Orchester, denn das Bühnenbild von Mathias Fischer-Dieskau besteht hauptsächlich aus Stegen und Treppen, die um das Orchester herum, aber auch mitten hindurch führen. Ein Plateau hinter dem Orchester dient als Hauptbühne, die einzelnen Stationen der abstrusen Reise Candides werden mit verspannten Gummiseilen und Videotechnik abstrakt dargestellt, was die Gleichnishaftigkeit der Handlung verdeutlicht. Die herrlich schrillen, an zeitgemäße Mode angelehnten Kostüme von Susanne Hubrich betonen die Charaktere der Figuren, die wohltuende Lichtregie (Susanne Reinhardt) überträgt die Stimmung der jeweiligen Szene.
Streng genommen, ist „Candide“ natürlich kein Musical, sondern eine Comic Operetta in zwei Akten mit mitreißender Musik von Leonard Bernstein und pfiffigen Gesangstexten von Richard Wilbur, Stephen Sondheim, John Latouche, Lillian Hellman, Dorothy Parker und Leonard Bernstein. Die bescheuerte Handlung verdankt sie dem Roman „Candide oder der Optimismus“ von Voltaire, der als Vorlage zum Buch von Hugh Wheeler diente. Voltaire widerlegt mit seiner Geschichte, die den armen Candide um den Globus schickt, ihn die bulgarische Armee, die Inquisition, ein Erdbeben, den einen oder anderen Schiffbruch usw. erleiden und überleben, aber nicht an seiner Liebe zu Cunigonde verzweifeln lässt, die darin wörtlich zitierte Aussage Gottfried Wilhelm Leibniz‘, wir lebten in der besten aller möglichen Welten . Zugleich ist sie in all ihrer Abstrusität zutiefst wahr das Erdbeben in Lissabon hat es ebenso gegeben wie die Autodafés, die moralische Verderbtheit des Adels und des Klerus, die Presskommandos der Armeen, die Diktatoren und, und, und allein die Goldschafe sind wie ganz Eldorado leider nur eine Erfindung.
Frank Schneiders führt als Voltaire/Pangloss/Cacambo/Martin gekonnt und stimmgewaltig mit großem komödiantischen Talent durch den Abend. Den Candide singt Sung-Keun Park mit zartem Schmelz hinreißend schön, und er spielt den deutschen Michel in stilisierter Lederhose und Zipfelmütze rührend naiv. Carmen Fuggiss als kokett willige Paquette und Christopher Tonkin als herrlich schwuler Maximilian sorgen ebenso für viele Lacher wie Diane Pilcher, die als Alte Lady (mit nur einer Pobacke) gekonnt hüftwackelnd ihren Reifrock schwingt und gar nicht altersschwach sehr kraftvoll singt. Auch das restliche Ensemble erweist sich als sehr gut besetzt und überzeugt mit feinem Schauspiel und ausgezeichnetem Gesang.
Cornelia Zink singt die Cunegonde mit mitreißendem Schauspiel, vollem Körpereinsatz und wunderbarer Stimme. Dabei erreicht sie brillante Höhen glasklar und mühelos, präsentiert verschnörkelte Koloraturen geradezu nebenbei, glänzt aber auch mit warmen Tiefen. Auch Patrick Jones bringt als Gouverneur/Vanderdendur/Ragotski eine bewundernswerte Leistung.
Die Verständlichkeit der gesprochenen Texte ist nicht immer gegeben, die Liedtexte werden ohnedies auf Englisch gesungen, aber deutsch übertitelt, was erfreulich unaufdringlich, aber gut sichtbar am oberen Rand des Bühnenportals geschieht. Der Chor der Staatsoper Hannover singt sehr akzentuiert und agiert mit großer Spielfreude.
Heutigentags wird der Musiktheaterbesucher nicht mehr oft mit großem Orchester verwöhnt. Mehr und mehr werden Musiker durch elektronische Effekte ersetzt, notgedrungen gewöhnen sich die Ohren der Hörer allmählich daran. Doch ein Ohrenschmaus wie „Candide“ mit dem wirklich großartigen Niedersächsischen Staatsorchester Hannover unter der Leitung von Karen Kamensek ruft wieder ins Gedächtnis, um was wir da betrogen werden. Wie herrlich kann doch ein Musikerlebnis sein, wenn richtige Musiker live in großer Zahl synchron, also wahrhaft symphonisch, jeden Abend neu Töne erzeugen und Musik erlebbar machen. Wenn dann noch so wie hier ausnahmslos alle Sänger jeden Ton und jede Nuance treffen, wenn jede noch so kleine Rolle gut besetzt und der Chor vom Feinsten ist, dann wissen wir es wieder: So geht Musik.
Text: Hildegard Wiecker