Exzellenter Minimalismus: „Chicago“ auf Tour
Manchmal ist weniger mehr. Das beweist die minimalistische Inszenierung des Musicals „Chicago“ seit 1996 am Broadway. Eine Tourproduktion dieser englischsprachigen Original-Inszenierung ist jetzt im deutschsprachigen Raum zu sehen und verspricht einen eindrücklichen Theaterabend, der gänzlich ohne Bühnenbild und aufwändige Kostümwechsel auskommt. Diese Original-Inszenierung nach Bob Fosse bildet damit das perfekte Pendant zu Ulrich Wiggers‘ aufwändiger Neuinszenierung von „Chicago“ auf dem Magdeburger Domplatz.
Die Tourproduktion besticht durch exzellenten Minimalismus. So besteht das Bühnenbild von John Lee Beatty nur aus einem goldenen Bühnenportal, einer schwarzen Bühne und einem schwarzen, goldgerahmten Podest, auf dem die elfköpfige Jazzband platziert wurde. Sobald der Lappen hochgeht und den Blick auf die Bühne freigibt, wird unmissverständlich klar, dass hier die Musik im Vordergrund steht. Und so wird das Musikerpodest immer wieder zum Schauplatz der Handlung und Dirigent Bryan Schimmel fungiert nicht nur als Bandleader, sondern auch als eine Art Conférencier.
Die jazzig-launige Partitur von John Kander wissen die Musiker mit der nötigen Leidenschaft zu interpretieren. Insbesondere beim Entr’acte steht die Band im Mittelpunkt und wird vom Publikum – genauso wie bei der Schlussmusik – völlig zu Recht gefeiert. Wie die Trompeten kreischen, das Schlagzeug wummert und das Jazzklavier erklingt, ist geradezu genial und allein schon das Ticket für die Show wert.
Durch nur wenige Handrequisiten und mithilfe von schwarzen Stühlen, die von den Darstellern rein- und rausgetragen werden, entstehen neue Schauplätze in einer genialen und im Vaudeville-Stil erzählten Satire auf die Justiz- und Medienmaschinerie, die auf einer wahren Begebenheit beruht. Weil die Bühne nicht mit Ausstattungsbombast überfrachtet ist, stehen neben der Musik die Darsteller immerzu im Mittelpunkt – die grazilen Damen in sexy knapper Reizwäsche oder in kurzen schwarzen Kleidchen mit Spitze und Strass und die muskulösen Herren in ihren figurbetonten schwarzen Kostümen, für die William Ivey Long verantwortlich zeichnet.
Ohne großen Schnickschnack erzählt Regisseur Walter Bobbie eine Story über zwei Mörderinnen, die vom Knast aus eine Karriere im Showbusiness starten. Dabei begeistert vor allem die Choreografie von Ann Reinking, die unglaublich präzise und sexy-verrucht daherkommt. Als ein Highlight erweist sich dabei vor allem der „Cell Block Tango“, bei dem sich die Damen mit ihren endlos erscheinenden Beinen lasziv auf Stühlen räkeln und davon berichten, wie sie ihre Männer oder Lover um die Ecke gebracht haben.
Als zwei starke Leading-Ladies erweisen sich Carmen Pretorius als Roxie Hart und Samantha Peo als Velma Kelly. Pretorius ist als Roxie immer auf den Punkt, bewältigt ihre Songs mühelos und schmeißt sich mit großer Leidenschaft in ihre Tanzeinlagen. Schauspielerisch gelingt ihr der Balanceakt zwischen süßer Naivität und großer Geltungssucht mit Bravour. Samantha Peo hingegen zeigt eine facettenreiche Velma, die zunächst die erfolgsverwöhnte und später fallengelassene Diva gibt und ebenso gesanglich wie schauspielerisch und tänzerisch eine ohne Abstriche perfekte Darbietung liefert.
Zwischen den taffen Damen kann sich aber auch Craig Urbani als Billy Flynn behaupten, der einen wunderbar charmant-schmierigen Anwalt gibt, mit sonorer Stimme und starker Bühnenpräsenz glänzt. Eine ebenfalls geniale Darstellung gelingt Grant Towers in der Rolle von Roxies betrogenem Ehemann Amos. Mit nur wenigen Gesten und grandioser Mimik sowie einer naiven Gutgläubigkeit und erstklassigen Interpretation des Songs „Mr. Cellophane“ vermag er sich in die Herzen der Zuschauer zu spielen und wird dafür verdient gefeiert.
Mit dem Song „When you’re good to Mama“ begeistert Ilse Klink als Mama Morton mit ihrer dunkel legierten, röhrenden Stimme. Als oberste Gefängnisaufseherin kümmert sie sich nicht nur rührend um ihre Knast-Girls, sondern ist auch äußerst geschäftstüchtig, indem sie sich jeden noch so kleinen Gefallen bezahlen lässt. Einen nicht weniger starken Auftritt legt KJ Haupt in der Rolle der Klatschreporterin Mary Sunshine hin, der mit seinem Falsettgesang gefällt.
So bietet „Chicago“ beste Unterhaltung auf einem ganz hohen Niveau. Die Musik von John Kander, die zündenden Songtexte von Fred Ebb und das spannende Buch von Ebb und Bob Fosse bieten die Grundlage für ein durchweg starkes Musical, das in seiner minimalistischen Vaudeville-Inszenierung mit exzellenten Darstellern, einer grandiosen Jazzband und der unnachahmlich originellen Choreografie begeistert. „Chicago“ ist sexy, verrucht und absolut sehenswert!
Text: Dominik Lapp
Tipp | Die in dieser Rezension abgebildeten Fotos wurden uns freundlicherweise von Mirco Wallat zur Verfügung gestellt. Weitere seiner Fotos gibt es unter www.musicalsessen.de.