Imagine This, Foto: Christian Dabringhaus
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Mut zum komplexen Thema: „Imagine this“ in Münster

Eine dunkle Bühne. Lediglich der Schein einer einzelnen Kerze durchbricht zaghaft das Schwarz. Vor der Bühne mehr als 40 Musiker, alle im Dunkeln sitzend, nur die Violinen mit elektrischem Licht versorgt. Auf der Bühne rund 60 Sänger (Soli: Rebecca Rieder und Noemi Wicher), die den jiddischen Klezmer-Titel „Unter dayne vayse Shtern“ stimmgewaltig und nicht enden wollend ins Auditorium schmettern. Ein ungewöhnlicher, ganz puristischer Beginn für ein Musical. Und doch so atmosphärisch. Kalte Schauer jagen einem über den Rücken. Und schnell scheint klar zu sein, dass „Imagine this“ im Konzertsaal der Waldorfschule Münster kein gewöhnlicher Musicalabend wird.

Zugegeben, das Musicalgenre ist sehr breit gefächert. Es gibt Musicals in sämtlichen Musikstilen, Musicals, die in den verschiedensten Epochen spielen, Musicals, die Geschichten erzählen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Aber eignet sich die Geschichte um eine Theatergruppe, die im Jahr 1942 im Warschauer Ghetto kurz vor der Deportation ins Vernichtungslager Treblinka steht, für die Musicalbühne? Am 28. Oktober 2016 hat das Freie Musical-Ensemble Münster diese Frage mit einem klaren Ja beantwortet, als man die deutschsprachige Erstaufführung des Musicals „Imagine this“ feierte.

Das Musical aus der Feder von Shuki Levy (Musik), David Goldsmith (Gesangstexte) und Glenn Berenbeim (Buch) erzählt die Geschichte von Daniel Warshowsky, der eine kleine jüdische Theatergruppe leitet. Von den Nationalsozialisten aus ihren Wohnungen vertrieben und ins Warschauer Ghetto gebracht, kämpfen sie dort Tag für Tag ums Überleben. Um die Bewohner des Ghettos von ihrem Leid abzulenken, führt die Theatergruppe ein Stück namens Masada auf, das von der Belagerung der Juden durch die Römer um 70 n. Chr. auf der gleichnamigen Felsenfestung  handelt und somit eine Parallele zur Situation im Warschauer Ghetto zieht.

Dem Regieteam Ingo Budweg und Canan Toksoy ist es gelungen, die beiden parallelen Handlungsstränge perfekt miteinander zu verweben. Einzig das sehr langatmige Buch von Glenn Berenbeim, das sich in der Juden-Römer-Handlung zu oft an unwichtigen Details aufhält, wird ihnen dabei zum Verhängnis und der Abend mit rund vier Stunden sehr lang. Doch Budweg und Toksoy haben insbesondere die Handlung im Warschauer Ghetto so dramatisch und packend in Szene gesetzt, dass man über die buchbedingten Längen getrost hinwegsehen kann. In wohl keiner anderen Produktion hat sich das Freie Musical-Ensemble Münster je so authentisch, überzeugend und in harmonischem Einklang gezeigt wie in „Imagine this“. Ensemble und Orchester verschmelzen geradezu zu einer perfekten homogenen Einheit, was optisch noch verstärkt wird, indem die Musiker vor der Bühne ebenso Kostüme und Judensterne tragen.

Einzelne Darsteller hervorzuheben, erscheint angesichts der Perfektion des gesamten Ensembles mehr als schwer. Dennoch sollen stellvertretend einige Namen genannt werden. Gerade auch, weil es fast unglaublich scheint, dass Hauptdarsteller Christoph Bürgstein in der Rolle des Daniel Warshowsky im wahren Leben Ingenieur ist. Sein Schauspiel, sein Gesang und seine Bühnenpräsenz sind so auf den Punkt genau, dass er sich hinter einem ausgebildeten Schauspieler nicht zu verstecken braucht. Aber auch Melvin Schulz-Menningmann als SS-Hauptsturmführer Blick steht ihm in nichts nach. Im Gegenteil: Seine Darstellung des SS-Manns ist beängstigend authentisch. Wenn er mit seinen Männern den Zuschauerraum stürmt und androht, jeden Zuschauer, der auch nur zuckt, sofort zu erschießen, lässt einem das das Blut in den Adern gefrieren. Und als er Ingo Budweg von seinem Dirigentenpult zieht, ihn zu Boden wirft, ihm eine Pistole an den Kopf hält und ankündigt, ihn als erstes zu erschießen, ist das einer von etlichen Momenten, in denen man als Zuschauer wie in Schockstarre auf seinem Stuhl sitzt und sich kaum zu atmen traut.

Generell hat sich das Ensemble im Schauspiel erheblich verbessert und bringt für diesen ernsten Stoff so die nötige Ernsthaftigkeit mit. Doch auch gesungen wird ganz wunderbar. Die Ensembleszenen gehen dank des starken Chores durch Mark und Bein und in Soli und Duetten lassen besonders Sarah Hartmann (Rebecca Warshowsky), Sönke Westrup (Adam/Silva), Jonathan Kaas (Izzy/Pompey) und Ricardo Santos (Otto/Rufus) mit ihren schön klingenden Stimmen aufhorchen.

Eine ebenso herausragende Leistung bringt wie gewohnt auch das mehr als 40-köpfige Orchester unter der Leitung von Ingo Budweg, der als Künstlerischer Gesamtleiter des Ensembles nicht nur für die Regie verantwortlich zeichnet, sondern auch als Dirigent den Taktstock schwingt. Shuki Levy hat mit „Imagine this“ ein hervorragendes symphonisches Werk mit großen Melodien geschaffen, die weniger im Kopf bleiben mögen, aber dennoch durch ihre Schönheit und Komplexität überzeugen – genau das herüberzubringen, ist Budweg und seinen Musikern aufs Beste gelungen!

Künftig muss es im deutschsprachigen Raum nun die Aufgabe der Stadt- und Staatstheater sein, das Musical „Imagine this“ auf die Bühne zu bringen und dem Abopublikum diesen Leckerbissen nicht mehr länger vorzuenthalten. Gelebte Geschichte und gelebtes Erinnern durch dieses einzigartige Musical zu visualisieren, scheint gerade in der jetzigen Zeit, wo die Stimmung in Deutschland zu kippen droht, wichtiger denn je. Dem Freien Musical-Ensemble Münster gebührt jedenfalls ein großer Dank für den Mut, sich an dieses komplexe Thema herangewagt zu haben. Chapeau!

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".