Licht unterm Scheffel: „My Fair Lady“ in Hamburg
Was für eine großartige Inszenierung von „My Fair Lady“ in der Hamburger Elbphilharmonie. Was für eine grässliche Beschallung. So in etwa lautet das Fazit einer Rezension, die im zentralen Punkt unvollständig bleiben muss, denn das, was dem Musicalbesucher am Wichtigsten ist, nämlich die Musik, die Stimmen der Sänger, konnte bis auf zwei Einzelfälle nicht beurteilt werden. Wie ein feuchtes, dunkles Tuch legte sich die völlig unnötige, kontraproduktive miserable Beschallung durch Verstärker über ursprünglich strahlende Klänge und verdarb den Gesamteindruck erheblich. Anhand der zwei Beispiele soll später exemplarisch erläutert werden, wie verheerend sich das auswirkte, aus Gründen der Fairness unterbleibt eine weitere Schilderung von Klängen und Stimmen. Dies vorab.
Hochinteressant und sehr gelungen ist das Konzept dieser halbszenischen Inszenierung unter Regie von Michael Sturminger und musikalischer Leitung von Alan Gilbert vor allem, weil der gesamte Saal der Elbphilharmonie bespielt wird. Gleich zu Beginn überraschen die ersten im Zuschauerbereich umherspazierenden Ensemblemitglieder, und auch Eliza wandert blumenverkaufend durch den Saal – die Blumen dürfen später mitgenommen werden. Originell sind die in den Text eingearbeiteten Bezüge auf Hamburg, ganz offensichtlich lebt die aus Berlin zugezogene Eliza mit ihrem Vater in Sankt Pauli – wo seltsamerweise fast ausschließlich berlinert wird, ebenso wie in Groß Flottbek und Blankenese. Hier wäre konsequente Anpassung sinnvoll gewesen, denn es reicht wirklich, dass die Doolittles die deutsche Entsprechung zu Cockney pflegen, alle anderen sollten Hamburger Platt snacken oder in Blankenese zumindest Hamburger Akzent aufweisen. Leider spricht nur ein einziges Ensemblemitglied den zu Spielstätte und gewähltem Handlungsort passenden Dialekt, was wirklich schade ist und einen erheblichen Logikfehler darstellt. Ebenso wie der Umstand, dass nach wie vor von Pfund und „wer lehrt Kinder Englisch“ die Rede ist. Es wäre gut, Texte komplett zu adaptieren oder im Original zu belassen – denn dann würde die Geschichte bekanntlich in London spielen.
Die Kostüme von Renate Martin bewegen sich zwischen Streetlook, Anzug und aufwändiger Abendgarderobe in gelungenem Mix aus Vergangenheit und Moderne, wodurch das Stück erfreulich zeitlos wirkt. Hübsch auch der Einfall, die Rennpferde als (reiterlose) Lichtsilhouetten auf die Wände projiziert durch den Saal huschen zu lassen.
Das renommierte NDR Elbphilharmonie Orchester wartet mit großer Besetzung auf: 26 Violinen, zehn Violen, acht Violoncelli, sechs Kontrabässe, eine Flöte, eine Oboe, zwei Klarinetten, ein Fagott, zwei Hörner, drei Trompeten, zwei Posaunen, eine Tuba, eine Harfe, eine Pauke und ein Schlagzeug erzeugen das, was man einen satten Sound nennt – allerdings kann man die vollkommene Schönheit des Klangs nur während der Stimmphase ungetrübt bewundern, denn die dumpfpumpfe Lautsprechersoße macht auch vor dem Orchester nicht halt.
Der 35-köpfige NDR-Chor singt unglaublich akzentuiert, nuanciert und mit größter Disziplin. Das ist zu hören, so lange die Sänger im Saal verteilt sind und denjenigen Zuschauern, in deren Nähe sie sich befinden, jeweils direkt ins Ohr singen. Kaum entfernen sie sich – Klangbrei.
Gleiches gilt für Ensemble und Solisten. Ein für rein natürliche Akustik (also uplugged) gebauter und ausgerichteter Saal kann logischerweise mit auch der besten ambulant aufgebauten Anlage nur im Clinch liegen, und der Kampf der Schallwellen ergibt ein Desaster. Die bis in die kleinste Rolle hochkarätige und potente Besetzung wird vernuschelt bis zur Unkenntlichkeit wiedergegeben, Stimmen bis zur Unhörbarkeit verfremdet (tatsächlich ist ein Solo so gut wie gar nicht zu hören, allen Stimmen fehlen Frequenzen) und verdumpft. Überspitzt formuliert, werden die Perlen der Sanges- und Schauspielkunst der Sau der Verstärkeranlage vorgeworfen und landen Preziosen im Schlamm der Lautsprecherhölle. Dennoch dringt Licht unter dem Scheffel der Verstärkeranlage hervor, denn schauspielerisch wird viel geboten.
Das ausgezeichnete Ensemble (Sophie Blümel, Birgit Busse, Melanie Gebhard, Matthias Graf, Melanie Herzig, Marvin Kobus Schütt, Philipp Lang, Max Niemeyer, Martin Rönnebeck, Frederik Stuhllemmer, Janneke Thomassen, Birgit Widmann, Katharina Wollmann sowie Kinderdarsteller Peter bzw. Wilma Hörbiger) erweist sich als äußerst spielfreudig, ohne je zu überzeichnen, und tobt auch schon mal in fröhlicher Polonaise durch den Saal der Elbphilharmonie.
Ethan Freeman gibt einen herrlich betrunkenen Harry, Michou Friesz überzeugt als Mrs. Eynsford-Hill ebenso wie als Mrs. Hopkins. Josefin Platt spielt Mrs. Pearce mit genau der richtigen Mischung aus Chuzpe, mütterlicher Fürsorge und Resolutheit. Mit wundervoll trockenem Humor zeigt Edith Clever eine sarkastisch-liebevolle Mrs. Higgins, Jens Larsen zeichnet Müllkutscher Alfred P. Doolittle trotzig, vulgär und doch auch ein bisschen hilflos und verletzlich. Kai Maertens bringt mit seinem überzeugend zerstreuten, gutmütigen Oberst Pickering einen würdigen Gegenpart für Professor Higgins auf die Bühne.
An Henry Higgins scheiden sich etwas die Geister. Kammerschauspieler Michael Maertens verlässt ausgetretene Pfade. Sein Higgins hat nichts von dem durch Rex Harrison geprägten distinguierten Herrn an sich. Das könnte reizvoll sein, jedoch erwartet man von einem Phonetiker eine gewisse abgehobene Gelehrten-Attitüde. Die hat dieser Higgins absolut nicht. Für einen nicht mehr ganz jungen Phonetiker ist er nicht trocken genug, wirkt zu halbseiden, gar hemdsärmelig, und dass seine Stimme ganz besonders vernuschelt übertragen wird, hilft auch nicht wirklich. Es wird nicht klar, was Eliza überhaupt an diesem Higgins findet, ist er doch weder Vaterfigur noch Jungmädchenschwarm, bleibt einseitig gezeichnet als egoistischer Snob merkwürdig blass und eher unsympathisch.
Worin Higgins zu jung wirkt, erscheint Eliza zu alt. Sarah Maria Sun spielt Eliza zwar mädchenhaft, zunächst herrlich rotzgörig, dann empfindsam, doch sehen ihre Züge eher hart und kantig aus, was sie älter wirken lässt als sie tatsächlich ist. Aus der Nähe betrachtet, zeigt sich ihr Gesicht viel jünger und weicher als auf der Bühne, das kann also nur eine ungünstige Mischung aus Licht (Heiko Hentschel) und Maske (Leitung: Ute Mai) sein. Sobald sie aus dem Schatten des Lautsprecherbreis (Ton: Manuel Horstmann, Ton NDR: Helmut Burk, Katja Zeidler) heraustritt, klingt ihre Stimme hell und klar, wundervoll wandlungsfähig von rotzig bis weich. Sie ist eines der beiden Beispiele für die frappante Wirkung des Beschallungshammers (technische Projektleitung: Lars Bölcker, Tobias Giese), der einfach alles gnadenlos plattmacht.
Das andere Beispiel und Lichtgestalt des Abends jedoch ist, vor allem weil er mehr im Saal live zu hören ist als auf der Bühne unter der Beschallung, die auch seine Stimme zur Unkenntlichkeit verfremdet, Simon Bode als Freddy Eynsford-Hill. Unglaublich sympathisch und warmherzig mit jugendlichem Charme gespielt, singt sich dieser Freddy mit hinreißend schmelzendem Tenor wunderbar modulierend zwischen zarten Piani und kraftvollen Fortissimi direkt in die Herzen der Zuschauer. Er lässt ahnen, was im Großen Saal der Elbphilharmonie möglich wäre, wenn man deren legendäre Akustik nutzen und nicht mit künstlicher Beschallung zunichte machen würde.
Sollte diese von NDR und Elbphilharmonie produzierte Inszenierung neu aufgenommen werden, bleibt nur zu hoffen, dass diesmal dem Können der Architekten sowie der Sänger und Musiker vertraut wird und nicht wieder der Unsitte, allem, was Musical heißt, eine an sich unnötige Beschallung durch Verstärker aufzuzwingen, gefrönt wird. Dann – aber nur dann – wäre „My Fair Lady“ in der Elbphilharmonie eine echte Empfehlung.
Text: Hildegard Wiecker