Kleines Bühnenwunder: „Paper Hearts“ in Hamburg
Es gibt ihn, diesen magischen Musical-Moment: Der Moment, der entscheidet, ob einen der Stoff, die Inszenierung, das Ensemble, die Musik einfängt. Oder nicht. Im Falle von „Paper Hearts“, das am 30. Mai 2017 seine Deutschlandpremiere im Hamburger First Stage Theater erlebte, fällt diese Entscheidung erstaunlich schnell: mit dem Einsatz des Cellos in „Words“, dem Opener des Stückes. Die Magie, die sich jetzt auf der Bühne entfaltet, trägt einen Abend lang. Und darüber hinaus. Das ist erstaunlich, denn kurz vorher switcht man beim Anblick von Adam Small, der als Atticus Smith und umringt von Büchern wie besessen auf seine Schreibmaschine einhaut, durch die mannigfaltigen Referenzen: Gut, es ist kein verschrobener Filmemacher in einem New Yorker Fabrikloft, es ist kein verschrobener Angestellter in einem blumigen Horrorladen, aber es ist eben ein verschrobener, verkappter Literat in einer Buchhandlung – da drängen sich die Vergleiche geradezu auf. Und man fragt sich: Können die Papierherzen vor ihren großen Schwestern bestehen? Sie, soviel sei an dieser Stelle schon verraten, können.
Doch alles hübsch der Reihe nach: Die Geschichte von „Paper Hearts“ beginnt 2012. Beim Anblick einer leeren Bühne imaginiert Liam O’Rafferty eine alte Buchhandlung, imaginiert Schiebeleitern, exzentrische Mitarbeiter, Kunden, trägt seine Idee weiter und erste Lieder der Regisseurin Tania Azevedo vor. Zusammen mit Musikdirektor Daniel Jarvis, der arrangiert, weitere Musik, Liedtexte und „die Magie des Theaters“ hinzufügt (wie Rafferty es beschreibt), wird das Musical zunächst in einer 75-minütigen Version via Crowdfunding-Kampagne beim Edinburgh Fringe Festival auf die Bretter geschickt. Ein Jahr später folgt die Premiere am Londoner Gatehouse. Und nun also, schon anderthalb Wochen danach, in Hamburg. „Paper Hearts“ ist somit der beste Beweis dafür, was passieren kann, wenn eine Handvoll Theater-Verrückter ihre Passion und ihren unerschütterlichen Glauben an die gute Sache allen noch so widrigen Umständen zum Trotz hochhalten. Das verlangt keine Herzen aus Papier, das schreit nach Löwenherzen, und tatsächlich verdankt sich dieses kleine Bühnenwunder dem Mut einiger weniger Enthusiasten: Dem Mut von Liam O’Rafferty, der sich als erfahrener Musiker ohne Musical-Erfahrung und ohne Kontakte zur Szene diesem ambitionierten Stoff aussetzte. Azevedo und Jarvis, die ihn weitersponnen. Denise Koch, die ihn als Produzentin nach Hamburg holte – in Originalsprache. Und natürlich dem jungen, multitalentierten Ensemble.
Passion und Talent kann man dem männlichen Protagonisten Atticus Ross kaum absprechen, der Mut hingegen verlässt ihn nur allzu leicht. Er schreibt leidenschaftlich an seinem Roman „Angel Star“, leidet indes wiederholt an veritablen Schreibblockaden. Die werden nicht gerade durch die Tatsache gelindert, dass er von einem Tag auf den anderen seinen Job als Manager von „The Final Chapter“ verloren und eine neue Chefin vor der Nase hat: Lilly Sprocket (Gabriella Margulies). Die wiederum ist mit Atticus’ Vater zusammen, dem Besitzer von „Literally Books“, eben jenem Online-Konzern, der den urigen, doch unrentablen Buchladen just aufgekauft hat. Nicht nur darum ist das familiäre Verhältnis zwischen Ross Senior und Junior zerrüttet: Dass er bei einem Jungautoren-Wettbewerb aus Angst im Beisein seines Vaters und der ganzen Schule nicht einen Satz über die Lippen brachte, trägt Atticus als Trauma vor sich her. Und nun steht erneut ein Wettbewerb an. Ein mit 50.000 Pfund dotierter, was die Rettung für „The Final Chapter“ bedeuten würde. Da von seiner Freundin Alex (Sinéad Wall) keinerlei Schützenhilfe zu erwarten ist, flieht Atticus lieber ins fiktionale Russland, das von ihm erschaffene Reich, wo Isaak (Matthew Atkins) nach Volger sucht, dem kaltblütigen Mörder des neunjährigen Bruders seiner Begleiterin Yanna (erneut: Sinéad Wall) – zugleich sein ehemaliger Kommandant. In dieser Welt kann Atticus seine inneren Konflikte durchspielen und sich gegen sie behaupten. Umgekehrt zwingen ihn seine Romanfiguren dazu, sich mit ihnen und damit seinen eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Was sich auf dem Papier wie eine hanebüchene Schultheater-Idee liest, wird unter den Fingern des Kreativteams zur perfekten Symbiose – gleichermaßen bezogen auf (innere) Handlung und (äußere) Dramaturgie – die den sattsam bekannten Topos des Vater-Sohn-Konfliktes erfreulich frisch aufbereitet.
Dass man erstaunlich schnell auf beiden Handlungsebenen bei „Paper Hearts“ mitfiebert, liegt keineswegs am Tempo der Inszenierung und der Umzüge allein (so wird nicht nur aus der russischen Rächerin die Femme fatale für Atticus, auch Matthew Atkins mimt in fortlaufender Verwandlung Isaak und Norman, den Besitzer von „The Final Chapter“). Es liegt ebenso an der Musik, die – etwa in Gestalt des finalen Titelstückes und „Stand Up“ – mit wahren Showstoppern aufwarten kann, die zwischen unerhört folkigen Einflüssen und – zugegeben manchmal verdächtig vertrauten – groovigen Nummern changiert (man stelle sich getrost eine Mischung aus „High Fidelity“, „Spring Awakening“ und „Once“ vor) und die, der vielleicht größte Clou überhaupt, vom Schauspielensemble selbst zum Klingen gebracht wird: Joel Benedict, ein freundlicher Zwirbelbartträger, zupft die Gitarre, stampft gemeinsam mit Alec White am Bass die Beats energisch ein und erhält dankenswerterweise ein Gesangs-Solo. Ben Boskovic fängt als hellhöriger Schlagzeuger und Percussionist seine Mitstreiter behutsam wieder ein, wenn sie ihm zu entwischen drohen. Und Matthew Atkins macht sogar an der Geige noch eine bessere Figur als Amy Gardyne, deren Bogen mehr als einmal knapp am stimmigen Wohlklang vorbei streicht.
Ansonsten gerät bei diesem Geniestreich nichts in Schieflage. Das kluge Casting trägt seinen Teil dazu bei. Adam Small besitzt eine im besten Sinne des Wortes junge Stimme. Singen kann er, keine Frage. Doch ist es gerade das Spröde, Unbändige, das seiner Rolle gerecht wird: Atticus Smith gibt gleichfalls lieber dem echten Gefühl Ausdruck, statt zwanghaft immer den richtigen Ton treffen zu wollen – was sich letztlich auszahlt. Vergessen wir nicht: Auch Anthony Rapp war Anfang des Jahrtausends bestimmt nicht der Inbegriff der gängigen, massenkompatiblen Musicalstimme. Gerade darum überdauert seine Mark Cohen-Performance: Sie hat Charakter. Von den Männern kann ihn lediglich Matthew Atkins ausstechen und herausstechen: mit mehr Strahlkraft in den Stimmbändern und durch sein der Doppelrolle geschuldetes, deutlich höheres „Arbeitspensum“. Die Verwandlungen vom linkischen Buchhändler zum revoltierenden Reporter und zurück gelingen nebst Akzent ebenso spielend wie Sinéad Walls Metamorphosen. Nicht die Rollen, dafür aber die Temperaturen wechselt Gabriella Margulies, und das absolut glaubhaft: gerade noch taffe, flirtende Geschäftsfrau, erliegt sie zunehmend dem Charme ihres Mitarbeiters, entscheidet sich für ihn und steht am Ende entschieden für ihn ein.
Die Spielfreude dringt aus jeder Pore, unübersehbar kultiviert durch Tania Azevedos Regie, die immer wieder mit kleinen Kniffen punktet: So sieht man etwa Atticus’ und Lillys erste Begegnung, verfolgt ihren Dialog als stummes Gespräch – hören tut man den Subtext, die Kommentarebene ihrer geheimen Gedanken. Sofort entäußert sich die Imagination. Da braucht es nur Tisch, Schreibmaschine, ein paar Bücherhaufen und Stühle. Obwohl, nicht einmal letztere: Am Ende hält es niemanden auf seinem Platz. Stehende Ovationen für „Paper Hearts“, wohlverdient.
Text: Jan Hendrik Buchholz