Total drüber: „Paramour“ in Hamburg
Der Zirkus ist in der Stadt. Man ist versucht zu sagen: Er wurde dringend gebraucht. Denn tatsächlich mutet es an, als müsse erst der Cirque du Soleil kommen, um (nicht nur) Stage Entertainment zu zeigen, was geht – wenn es um Unterhaltung geht. Nirgendwo könnte dies augenfälliger sein als in der Neuen Flora in Hamburg, wo „Paramour“ in seiner europäischen Erstaufführung mit „Aladdin“ ausgerechnet eine allenfalls passable – wenn auch äußerst passable – Show beerbt.
Dem ließe sich freilich entgegenhalten, dass nicht alle Theaterproduktionen mit Hochleistungsakrobatik aufwarten können (von müssen ganz zu schweigen). Zugegeben. Aber jedes Produzententeam darf sich beizeiten daran erinnern, dass vor dem großen noch ein größeres K, dass mithin vor dem Kommerz die Kunst kommen sollte. Und die Kunst des Musicals besteht ja gerade in der Faszination, in der Verzauberung.
Kein Wunder, dass sich „Paramour“ der goldenen Ära Hollywoods annimmt, in der Sensationen und Skandale, Kreativität und Crashs, Ambitionen und Abstürze noch größer waren als bloß leinwandgroß. Von Traum zu Triumph hetzt auch AJ (Pasquale Aleardi), ist dabei zugleich besitzergreifend und besessen, Antreiber und Getriebener. Und so treibt es ihn in einen Nachtclub, wo er den unbekannten, aber talentierten Komponisten Joey (Anton Zetterholm) sucht – und dessen „Muse und mehr“ Mildred (Vajèn van den Bosch) findet. Unter den Händen des smarten Regisseurs wandelt sich die Unschuld vom Lande schnell zu Indigo, dem Leinwandstar. Ob sich dadurch auch ihr Herz wandelt?
Eine Frau zwischen zwei Männern – wer hier Handlungsarmut bemängelt, mag sich zweierlei vor Augen halten: Erstens, dass sich ganz andere (Film-)Klassiker im Grunde auf dieses Beziehungsdreieck herunterbrechen lassen. Zweitens, dass es im Falle dieser Koproduktion um Plotlinien weit weniger geht als um das, was sich aus ihnen heraus entwickelt, um sie herum entspinnt. Und das ist echt traumhaft. Und traumhaft echt.
Etwaige Bedenken nämlich, die Akrobatik-Einlagen wären reiner Selbstzweck und würden der Erzählung eher aufgesetzt als eingefügt, werden schnell zerstreut. Beispielhaft hierfür ist die Filmstreifen-Szene, in der Joeys Schicksal live und leibhaftig in Einzelbilder zerhackt, quasi vom Zelluloid zurück in Jeder-Manns Leben geholt wird. „Wen soll ich wählen“ wird mit zwei Arrangements gleich zur doppelten Luftnummer: Am Set von „Cleopatra“ durch eine atemberaubende Strapaten-Einlage, dargeboten durch die Atherton Twins. Und während des Drehs von „Calamity Jane“ führt AJ seiner Angebeteten Indigo vor Augen, was Film vermag, fordert dafür selbst- und pflichtvergessen seinem Team am Schleuderbrett alles ab, vierfacher Salto inklusive; darstellerische Klasse und athletische Bravour scheinen sich schier gegenseitig herauszufordern.
Die Akrobatiknummer „Hand to Trapeze“ wurde gar speziell für diese Produktion entwickelt, schickt ihre Künstlerin auf Wanderschaft zwischen zwei Welten (Trapez- sowie Hand-auf-Hand-Akrobatik). Damit passt sie zum emotionalen Zwiespalt, in dem sich Indigo befindet, ebenso hervorragend wie zum Hahnenkampf um ihre Gunst. Letzterer wird erst durch eine dramatische Verfolgungsjagd auf den Dächern der Stadt – beziehungsweise auf Trampolinen – die unversehens von filmischer Fiktion zu bedrohlicher Realität kippt, endgültig und happy beendet.
Doch Theaterkunst erschöpft sich nicht allein in der großen Magie: Es sind meistens gerade die kleinen, liebevollen Tricks, die haften bleiben, die den Unterschied ausmachen zwischen geht so, ganz gut und grandios. In diesem Fall ist es Aaron Sebastian Dewitz, der als Buster dem in die Jahre und in Verruf gekommenen Begriff des Pausenclowns zu neuer Ehre verhilft. Ob er nun Selfies schießt, im Saal seiner „Mutter“ wiederbegegnet oder als lebender Wegweiser die eintretenden Gäste zurück zur Toilette treiben will: Indem er seinen Job (die Pause zu füllen) zur Profession erhebt, füllt er den Raum ganz aus. Das gilt in gleichem Maße für Setdesigner Jean Rabasse: Er zeigt einnehmend, wie man die große Bühne der Neuen Flora einnimmt.
Dewitz zur Seite stehen fünf Cast-Kolleginnen und -Kollegen: Der schon erwähnte Pasquale Aleardi gibt einen erfolgsverwöhnten, glaubhaft manischen, zum Ende des ersten Teils demagogischen, zu Beginn des zweiten gar dämonischen AJ. Die gerade mal 21-jährige Vajèn van den Bosch ist ihrer Zeit weit voraus. Erstaunlich, eine solch reife Leistung in so jungen Jahren abzuliefern! Patrick Stamme und Laura Panzeri sind als Robbie und Gina spielfreudige, erfrischende Sidekicks. Erster Gewinner im Ensemble bleibt dennoch Anton Zetterholm, der seinen Joey in der anfänglichen Clubszene zwar stumm, gleichwohl so präzise zu den Akzenten der Rhythmusgruppe über die Tasten des Flügels jagt, als sei er Konzertpianist und kein Musicaldarsteller.
Ebenfalls gewonnen hat das begeisterte Publikum, das ein wahrhaft unvergessliches Theatererlebnis mit nach Hause nimmt. Natürlich ist „Paramour“ total drüber. Aber des Guten zu viel ist eben immer noch Lichtjahre besser als gerade mal genug Durchschnitt. Der Zirkus ist in der Stadt. Er darf gerne länger bleiben.
Text: Jan Hendrik Buchholz