Sehenswert: „Thrill me“ in Hamburg
Über die Stränge schlägt an diesem Premierenabend des Musicals „Thrill me“ in Hamburg lediglich Lidia Kalendareva – und das bei diesem Sujet. Okay, es sind Saiten. Aber die werden wortwörtlich geschlagen, notfalls auch ohne Hammer. Tiefe perkussive Schläge leiten die „Leopold & Loeb Story“ aus der Feder Stephen Dolginoffs ein, eine Saite zwischen Saiten sorgt für irritierendes Geknister. Ein Störgeräusch, das auf beängstigende Weise korrespondiert mit der gestörten Beziehung zwischen Nathan (Kevin Köhler) und Richard (Gerrit Hericks), die exemplarisch vor Augen führt, wohin zu viel unreflektierte Nietzsche-Lektüre führen kann: zum irrigen und irren Glauben, ein Übermensch zu sein – mit allen bitteren Folgen.
Nathan ist Richard verfallen, und der nutzt das für seine Zwecke aus – beziehungsweise leben beide in zwanghafter Abhängigkeit. Sie können nicht ohne einander: Richard nicht ohne die Kicks, die er aus zunehmend größeren Gaunereien bezieht, zu denen er seinen Freund erpresst. Nathan nicht ohne die kurzen und kleinen Aufmerksamkeiten, die körperlichen Zuwendungen, die ihm Richard fürs Schmierestehen schenkt. Diese unheilvolle Symbiose nimmt zunehmend Fahrt auf – und rotiert dabei doch nur im Teufelskreis. Doch dieser Kreis hat ein Ende, das schlimmste Verbrechen: den Mord an einem kleinen Jungen. Bei dieser von Richard minutiös vorbereiteten Tat „verliert“ der vermeintlich devote Nathan seine Brille – und scheint schon verloren. Doch es kommt alles ganz anders.
Dolginoff schrieb sein Stück nach einer wahren Begebenheit und bleibt sogar überraschend dicht dran an der historischen Vorlage. Mit einer Ausnahme: Er stellt nicht den Ehrgeiz der Studenten in den Vordergrund, das perfekte Verbrechen zu begehen – auch wenn der „Zarathustra“, wie gesagt, eine große Rolle spielt – sondern konzentriert sich auf das ebenso geistige wie emotionale Tauziehen des Schwerverbrecher-Pärchens.
Dem ordnet er alles unter, verzichtet auf alles, was davon ablenken könnte: Nebenrollen beziehungsweise überhaupt mehr Bühnenpersonal. Selbst seine Kompositionen kommen kaum je über einen narrativ anmutenden Charakter hinaus, stellen sich ganz in den Dienst des Wortes. Oder besser: In den Dienst dessen, was zwischen den Zeilen steht. Und dafür wäre, zugegeben, der Gehörgang kaum noch empfänglich, wenn erst ein dicker Ohrwurm darin steckt. Zweifellos eine bewusste Entscheidung, für die der Autor reich belohnt wurde – neben zahlreichen Shortlist-Platzierungen unter anderem mit dem ASCAP Music Award, dem Preis der American Society of Composers, Authors and Publishers. Im Original gewiss ein Kabinettstück, bleibt durch die Übersetzung zumindest noch ein dicht gewobenes Krimi-Kammermusical.
Und was macht Veranstalter OFFstage Germany aus dieser Vorlage? Nicht das Beste (dafür ist vielleicht das Hamburg-Premierenfieber bei den Mitgliedern und Akteuren des jungen Vereins ganz einfach zu groß), aber eine runde Sache, ein durchaus sehenswertes Bühnendebüt. Unbeschriebene Blätter sind Kevin Köhler und Gerrit Hericks dagegen nicht; obwohl jung an Jahren, können beide auf eine beeindruckende künstlerische Vita zurückblicken. Farbenreicher wirkt Hericks’, und tatsächlich kennt sein Spiel immer eine klitzekleine Nuance mehr. Doch auch Köhler passt seine große Bühnen gewohnte Stimme perfekt an die Erfordernisse eines Kammermusicals an, hat keine Angst, ihr in den hohen Lagen – und wenn es der Gefühlslage seiner Rolle entspricht – eine spröde Brüchigkeit zu geben.
Überhaupt leistet Lidia Kalendareva ganze Arbeit, als Pianistin ebenso wie als Musikalische Leiterin von „Thrill me“. In den Schatten gestellt wird sie allenfalls noch durch die herausragende Lichtregie. Denn die macht aus dem, was da ist, tatsächlich: das Beste. Die Zweistimmigkeit jedenfalls ist zu jeder Zeit ein Genuss. Nicht zuletzt, weil Köhler und Hericks sich ebenso gut mischen wie ergänzen – und weil sie dynamisch intuitiv aufeinander reagieren. Was für ihren Gesang gilt, gilt leider nicht in gleichem Maße für ihr Spiel. Zu gesetzt wirkt es über weite Strecken (Regie: Michael Heller), zu dick die vierte Wand, was den Funken entsprechend nur einmal wirklich überspringen lässt: als kurz vor der Verhaftung die Masken fallen und es zwischen den Freunden hart auf hart kommt. Für kommende Produktionen, und das darf und soll ja so, ist noch Luft nach oben. Selbst wenn „Thrill me“ im Hamburger First Stage Theater bestimmt so manchen Besucher atemlos in die Nacht geschickt.
Text: Jan Hendrik Buchholz