Mehr als nur Jukebox: „Wahnsinn!“ auf Tour
Jukebox-Musicals gibt es wie Sand am Meer. Und doch bietet das Musical „Wahnsinn!“ mit den Hits von Wolfgang Petry so viel mehr als nur Jukebox, was vor allem am ausgefeilten Buch von Martin Lingnau und Heiko Wohlgemuth liegt. Das eingespielte Autorenduo hat keine mit heißer Nadel gestrickte Nummernrevue abgeliefert, sondern eine Reihe liebenswürdiger Charaktere und eine charmante Geschichte geschaffen. Dazu wurden die bestehenden Songs von Wolfgang Petry dramaturgisch äußerst klug in die Storyline verwoben und von Sebastian De Domenico sehr passend neu arrangiert. So wurden aus Solosongs jetzt Duette, mehrere Songs wurden zu einer Nummer verschmolzen, rockige Titel wurden zu Balladen.
Im Fokus der Handlung stehen vier authentische Paare und ihre Probleme, die aus dem Hier und Jetzt stammen. Für die szenische Umsetzung wurde mit Regisseur Gil Mehmert ein Mann gewählt, der nicht nur selber Kind des Ruhrgebiets – hier spielt die Handlung zum größten Teil – ist, sondern durch „Das Wunder von Bern“ bereits Erfahrung mit einer Ruhrpott-Geschichte mitbringt und bekannt ist für seine starke Personenführung.
Dem Regisseur ist es gelungen, die Handlung bei „Wahnsinn!“ äußerst temporeich und stringent zu erzählen – da wirkt jeder Dialog, da sitzt jede Pointe. Mehmert darf sich zudem glücklich schätzen, mit einer starken Cast gesegnet zu sein, die es ihm als Geschichtenerzähler sicherlich nicht schwergemacht haben dürfte, diese Geschichte von nebenan auf die Bühne zu bringen.
Für die vier Paare, die Mittelpunkt der Handlung sind, wurden acht perfekt ins jeweilige Rollenprofil passende Künstler verpflichtet. Enrico De Pieri verleiht dem Spediteur und LKW-Fahrer Peter eine glaubwürdige Kontur. Ihm nimmt man seinen Part zu jeder Zeit ab, egal ob er auf seinem Bock sitzt, mit dem Kumpel in der Kneipe ein Bier trinken will oder um seine vor dem Aus stehende Ehe kämpft. Auch gesanglich ist er seinem anspruchsvollen Part vollends gewachsen, so dass es große Freude bereitet, dass er gleich mehrere Soli und Duette singen darf.
Ihm zur Seite steht mit Vera Bolten in der Rolle der Sabine eine Frau mit Ecken und Kanten, die ganz stark die enttäuschte, geflüchtete Ehefrau gibt, die sich von ihrem Mann nur widerwillig zurückerobern lässt. Schauspielerisch wie gesanglich ist Bolten eine sichere Bank und bildet ein perfektes Pendant zu De Pieri.
Detlef Leistenschneider und Jessica Kessler sind die witzigen Sidekicks in der Inszenierung und geben das Ruhrpott-Paar Karsten und Gabi mit großer Spielfreude und authentischem Dialekt. Weil sie sich im Zusammenspiel hervorragend ergänzen und einen flapsigen Spruch („Ich krieg‘ die Pimpernellen!“) nach dem anderen raushauen, haben sie die meisten Lacher seitens des Publikums auf ihrer Seite.
Thomas Hohler gibt den 19-jährigen Nachwuchsmusiker Tobi als herrlich naiv-draufgängerischen Hitzkopf, der aus den elterlichen Zwängen ausbricht und nichts anderes will, als Musik zu machen. Dies gelingt ihm nicht nur schauspielerisch sehr gut, sondern auch gesanglich lässt er in jedem seiner Songs aufhorchen. Stark ist er außerdem im Zusammenspiel mit Dorina Garuci alias Gianna, die Tobi ordentlich Paroli bietet. Garucis größter Moment gelingt ihr mit dem emotional dargebotenen Song „Tinte“ – hierbei wird auch einmal mehr deutlich, wie tiefgründig die Songs von Wolfgang Petry teilweise sind. Ganz hinreißend in der Rolle der Jessica ist außerdem Carina Sandhaus, die viel Gefühl in ihre Stimme legt und zusammen mit Mischa Mang alias Wolf eine gelungene Interpretation von „Du bist ein Wunder“ bringt.
Ein optischer Höhepunkt ist nicht nur die spritzige Choreografie von Simon Eichenberger, sondern ganz besonders das einfache, aber funktionale Bühnenbild von Heike Meixner. Den Mittelpunkt bildet dabei Peters Lastwagen, auf dessen Anhänger nicht nur die Band untergebracht ist, sondern aktiv ins Bühnengeschehen integriert wurde – zum Beispiel immer dann, wenn Tobi seine Liveauftritte hat.
Obwohl „Wahnsinn!“ von Veranstalter Semmel Concerts als Party-Schlager-Musical beworben wird, bietet es letztendlich noch viel mehr. Natürlich steht das Publikum zum Finale und auch während der Vorstellung singen – für ein Musical eher ungewöhnlich – die Zuschauer die Refrains bei den Liedern mit. Aber im Kern bleiben die bereits eingangs erwähnte charmante Story und die liebenswürdigen Charaktere, die in Kombination mit dem gelungenen Setdesign und der Musik einen mehr als unterhaltsamen Theaterbesuch versprechen. Das Musical „Wahnsinn!“ hat Herz und damit seine Daseinsberechtigung im deutschen Musicalmarkt.
Text: Dominik Lapp