Wie ein krasser LSD-Trip: „Next to Normal“ in Bern
Musical ist keine leichte Muse. Musical ist nämlich nicht nur das, was die breite Öffentlichkeit wahrnimmt: Disney-Kitsch, ausladende Bühnenbilder, munteres Hoch-das-Bein und schlagerschwülstige Melodien. Nein, Musical kann anders sein. Ganz anders. Das beweisen Tom Kitt (Musik) und Brian Yorkey (Libretto) mit ihrem Rock-Musical „Next to Normal“, in dessen Fokus sie eine Frau mit bipolarer Störung stellen. Wenn das dann noch so genial inszeniert wird wie von Gil Mehmert am Stadttheater im schweizerischen Bern, sollte niemand mehr einen Zweifel daran haben, dass das Musical ein ernst zu nehmendes und mitunter völlig zu Unrecht unterschätztes Genre ist.
Bunte Luftballons, Fluchtlichter, stroboskopartige Lichteffekte – die Inszenierung von Mehmert wirkt wie ein krasser LSD-Trip, eine emotionale Achterbahn. Das Publikum wird mitgenommen auf eine Reise durch die Gefühlswelt der Hauptperson: Diana Goodman. Durch deren bipolare Störung leidet ihre ganze Familie, und so leidet auch das Publikum. Gil Mehmert schafft es, himmelhochjauchzende Momente plötzlich in Todesbetrübtheit zu ertränken. Trauer, Verlust, Suizid, Drogenabhängigkeit, Ethik in der modernen Psychiatrie, das Leben in einem amerikanischen Vorort – das alles haben sich die Buchautoren erdacht, das alles bringt der Regisseur meisterhaft stringent auf die Bühne.
In dem kargen Bühnenbild von Christopher Barreca bleibt das Hauptaugenmerk immerzu auf den Charakteren. Nur wenige Möbel, leuchtende Rahmen, projizierte Texte aus dem Psychologie-Lehrbuch, Treppenstufen, die die Vielschichtigkeit der Story und ihrer Charaktere, die verschiedenen Phasen von Dianas bipolarer Störung visualisieren – mehr braucht es auf der Bühne für diese Geschichte nicht. Dazu summieren sich das stimmungsvolle Lichtdesign von Christian Aufderstroth, die unaufgeregten Kostüme von Axel Aust und die dynamische Choreografie von Alex Frei.
„Next to Normal“ ist ein verstörendes, aber trotzdem unterhaltsames Musical, eine einzige große Ensemblenummer, in der jede Figur wichtig ist. Da ist es essenziell, dass man entsprechend starke Darstellerinnen und Darsteller hat, wie es in Bern der Fall ist. Bettina Mönch zeigt sich als Diana Goodman sowohl gesanglich als auch schauspielerisch den hohen Anforderungen der Rolle mehr als gewachsen. Sie changiert zwischen Resignation und Verzweiflung, lässt dabei aber niemals Zweifel an der Stärke Dianas aufkommen. Mönchs Schauspiel ist realistisch, nie aufgesetzt oder überspitzt. Stimmlich begeistert sie mit Ausdruck und Kraft.
An ihrer Seite gibt Detlef Leistenschneider als Dan Goodman einen präsenten Ehemann, der mit seiner „Alles wird gut“-Einstellung auf die Ärzte vertraut und das Bild der heilen Familie aufrechterhalten möchte, innerlich aber emotional betroffener ist, als er es zugibt. Auch gesanglich lässt Leistenschneider keine Wünsche offen. Eine durchweg starke Leistung liefert zudem Sybille Lambrich als Natalie Goodman. Ihre genauso rockig wie einfühlsam interpretierte Nummer „Superboy und seine Schwester aus Glas“ geht unter die Haut, schauspielerisch stellt sie vor allem Natalies innere Zerrissenheit sehr gut dar. Matthias Trattner verleiht Henry das glaubwürdige Profil eines optimistischen und unbeirrbaren Typen, der dem „unsichtbaren Mädchen“ eine wertvolle Stütze ist.
Gesanglich stark sowohl in den lauten als auch den leisen Nummern ist Lukas Witzel als Gabe, der einen alles dominierenden Charakter formt, den er bereits am Theater Magdeburg großartig gespielt hat. Den schwierigen Balanceakt zwischen tragischer und diabolischer Figur meistert er in Bern ebenfalls mit Bravour. Nicht unerwähnt bleiben darf zu guter Letzt Christof Messner als Dr. Madden, der einerseits den Rockstar unter den Medizinern mimt und andererseits sehr gut deutlich macht, dass der Arzt von Dianas Schicksal nicht unberührt bleibt.
Neben dem exzellenten Buch von Brian Yorkey und den kongenialen deutschen Texten aus der Feder von Titus Hoffmann, der gerade erst mit dem Musical „Scholl“ in Fürth einen weiteren Erfolg feierte, ist es die wunderschöne Musik von Tom Kitt, die bei „Next to Normal“ das i-Tüpfelchen bildet. Die Musikerinnen und Musiker des Berner Symphonieorchesters wechseln unter der Leitung von Hans Christoph Bünger gekonnt zwischen rockigen sowie feinfühligen Momenten und werden der Komplexität der Komposition und ihrer musikalischen Struktur vollends gerecht.
Am Ende beweist „Next to Normal“ aufs Neue, dass ein Musical kein klassisches Happy End benötigt. Diese emotionale Show überzeugt mit starken Charakteren, die eine Geschichte erzählen, die noch sehr lange im Gedächtnis bleibt.
Text: Christoph Doerner