Ein fast normales Klassentreffen: „Next to Normal – Reunion“ in Fürth
Vor ziemlich genau zehn Jahren, im Herbst 2013, feierte „Fast normal – Next to Normal“ (Musik: Tom Kitt, Buch und Liedtexte: Brian Yorkey, Deutsche Fassung: Titus Hoffmann) die deutschsprachige Erstaufführung in Fürth und bescherte dem hiesigen Stadttheater unter der damaligen Führung des Intendanten Werner Müller einen Ausnahmeerfolg, den es so in seiner Form sicher noch nicht erlebt hatte: Jeden Abend stehende Ovationen, noch bevor der Schlusston verklang, jubelndes Publikum und aus der ganzen Welt angereiste Fans, die den Bühneneingang wahrlich zum Überlaufen brachten. Damals sprach man bereits scherzhaft davon, sich in zehn Jahren zum Reunion-Konzert wieder zu vereinen. Doch was die Premiere dieses Stücks ins Rollen brachte, und wie viele Wiederaufnahmen und weitere Inszenierungen folgten, hätte wohl kaum einer der Involvierten zu Beginn auch nur ansatzweise geahnt. War es doch ein Stück, an das sich kein Theater in Deutschland so recht herantrauen wollte.
Jetzt, zehn Jahre später, liegt über dem Abend von „Next to Normal – Reunion“ ein Hauch Nostalgie, mag manch einer sich doch an die Premiere oder an eine der Vorstellungen vor zehn Jahren erinnern. Die Original-Band unter der Leitung von Christoph Wohlleben (ebenfalls am Klavier) befindet sich auf der Bühne im Hintergrund und ist somit stets sichtbarer Teil des Ganzen. Im Vordergrund stehen sieben erhöhte Hocker und Notenpulte nebeneinander aufgereiht – sieben, weil die Rolle des Familienvaters Dan Goodman sich an diesem Abend zwei Personen teilen: Thomas Borchert und Felix Martin kamen jeweils in den Genuss, über all die Jahre in dieser Inszenierung das Familienoberhaupt zu verkörpern und nehmen daher beide während der Reunion inmitten der restlichen Castriege Platz.
Pia Douwes, Sabrina Weckerlin, Thomas Borchert, Felix Martin, Ramin Dustdar, Dominik Hees und Dirk Johnston eröffnen den Abend so, wie man es aus dem Stück kennt: „Wie an jedem Tag“ holt das Publikum direkt ab und lässt es trotz nicht vorhandenem Bühnenbild mit fantastischer Lichtstimmung (Lichtdesign: Raphael-Aaron Moss) unverzüglich ins Geschehen eintauchen. Herrlich ist hier, wie am Ende laut Textbuch das Haus um Diana rotiert, Pia Douwes völlig atemlos auf ihren Stuhl sinkt und Titus Hoffmann sie beschwichtigt, dies sei nicht das ganze Stück, sondern nur fast „Next to Normal“. Die Zuschauerinnen und Zuschauer lachen, der letzte Bann scheint gebrochen und man beginnt, sich auf eine äußerst berührende, authentische, leicht nostalgische Zeitreise zu begeben.
Das Charmante an konzertanten Versionen ist ja im besten Falle, dass auch Geschichten erzählt werden, ohne das Stück aufzuführen. Und Geschichten gibt es an diesem Abend jede Menge. Sei es die Geschichte der Familie Goodman oder sind es persönliche Erinnerungen, Anekdoten, Erfahrungen – sie alle finden Platz in dem mehr als zweieinhalbstündigen Programm, was sich doch etwas mehr ausdehnt, als ursprünglich geplant. Titus Hoffmann, eigentlich Übersetzer und Regisseur des Stücks, erweist sich einmal mehr als kreativer Kopf des Ganzen. Er hat nicht nur damals federführend den Broadwayerfolg, unter anderem ausgezeichnet mit drei Tony-Awards und dem Pulitzer Preis, nach Deutschland geholt und jetzt das Reunion-Konzert in enger Zusammenarbeit mit seinem Regieassistenten Timo Melzer ins Leben gerufen und organisiert. Er führt auch als Moderator sympathisch und authentisch, fast normal eben, durch den Abend.
Zu Beginn gibt er eine kleine Einführung in das Stück und einen Rückblick auf dessen doch recht beschwerlichen Weg auf die deutsche Bühne und sorgt mit der Erzählung der Handlungsabfolge zwischen den einzelnen musikalischen Nummern und Dialogen dafür, dass vor allem die Zuschauenden, die zum ersten Mal mit der Thematik konfrontiert sind, problemlos eintauchen und folgen können. Charmant kreiert er immer wieder passende Übergänge und krönt diese zwischendurch mit Vorstellungen der jeweiligen Castmitglieder und amüsanten Anekdoten. Hier wird nicht nur einmal aus dem Nähkästchen geplaudert, als Hoffmann erzählt, wie er Pia Douwes, Sabrina Weckerlin oder Dominik Hees kennen lernte und diese letztendlich zu „Next to Normal“ holte. Es waren unterschiedliche Wege, über eigene Anrufe von Pia Douwes („Du machst „Next to Normal“? Ich möchte deine Diana sein!“) bis hin zur fast verpassten Audition von Sabrina Weckerlin, die eigentlich nicht dachte, dass diese Rolle für sie geeignet wäre und daher völlig spontan vorsang. Und dennoch verband sie alle eins: Eine Begeisterung und Neugier für einen doch eher untypischen Musicalstoff und die Vision, diesen umzusetzen und mit Leben zu füllen.
Zusätzliche, liebevoll arrangierte Videoausschnitte und Projektionen (Videomapping: Daniel Bandke) unterstützen die Moderation lebhaft und visuell, denn dankbarerweise hat Hoffmann auch vor zehn Jahren alles aufgenommen, dokumentiert und zusammengeschnitten – zum Leidwesen aller Anwesenden, war es doch damals noch nicht so normal wie heutzutage, jeden Moment filmisch festzuhalten. Man mag ihm an diesem Abend danken, wird man doch direkt zurückkatapultiert ins letzte Jahrzehnt, zurück zu den Anfängen und den darauffolgenden Spielzeiten in Fürth, Wien und Dresden.
Zusammengerafft und gekonnt gekürzt wird in dieser konzertanten Version dennoch das komplette Stück erzählt. Thomas Borchert und Felix Martin versuchen abwechselnd als Vater in ihrer eigenen Interpretation krampfhaft die Außenfassade der Familie Goodman aufrecht zu erhalten und machen dies beide auf ihre Art und Weise hervorragend: Energetisch und stimmlich kraftvoll lassen sie zugleich eine berührende Zerbrechlichkeit entstehen, als Dan Goodman am Ende den Tatsachen ins Auge blickt, die er so lange zu verdrängen versuchte. Pia Douwes und Ramin Dustdar haben als Diana und behandelnder Arzt mit den Psychopharmaka eine „Menage à trois“, bis Diana – sinnbildlich gesprochen – alle Medikamente wegwirft, um sich endlich wieder selbst zu spüren. Sich selbst spüren – dies scheint auch Pia Douwes zu gelingen, als sie der Rolle der manisch-depressiven Familienmutter, von der alle Stränge im Stück ausgehen, erneut eine Stimme geben darf. Und was für eine Stimme! Sie singt Diana nicht an diesem Abend, sie ist Diana mit jeder Faser ihres Körpers und genießt es augenscheinlich sehr, dies noch einmal erleben zu dürfen. Ramin Dustdar gibt auch nach zehn Jahren einen herrlich amüsanten Dr. Fine / Dr. Madden oder, in Dianas Augen, einen fabulösen Rockstar, der auf leicht zurückhaltende und dennoch so wichtige Art und Weise dem Familiengerüst einen spannenden Rahmen verleiht.
Sabrina Weckerlin bezeichnet „Next to Normal“ immer noch als ein absolutes Highlight ihrer Karriere und spürt die Rolle der Tochter Natalie Goodman, die sich neben ihrem verstorbenen Bruder nicht gesehen und wertgeschätzt fühlt, wie eh und je. Stimmlich reifer und selbstbewusster, schafft sie es auf bewundernswerte Art und Weise, Natalies gleichzeitig bockige sowie verletzliche Jugendlichkeit authentisch aufleben zu lassen. Dominik Hees, 2013 gerade einmal 23 Jahre alt und heute selbst Familienvater mit einem ganz anderen, viel sensibleren Blick auf das Stück, findet im Duett als jugendlicher, ungestümer Henry mit Weckerlin („Richtig für dich – Reprise“) die passenden Worte, so dass man am Premierenabend schon von einer kleinen Gefühlsexplosion sprechen kann. Hier zeigt diese wunderbare konzertante Version und die ständige Präsenz aller Beteiligten ein ganz besonderes Miteinander, was normalerweise im routinierten Stückablauf mit Umzügen und Backstage-Aufenthalten doch eher verborgen bleibt. Eine intensive Magie und Dynamik entstehen – und es rollt nicht nur einmal eine Träne, vor allem, wenn der Platz hinter den Textbüchern verlassen wird und alle mehr als nur gesanglich in ihre Rollen eintauchen.
Eigentlich könnte man fast sagen, ist es Dirk Johnston zu verdanken, dass „Next to Normal“ nach Deutschland kam, hat er doch als junger Student an der Berliner Universität der Künste Titus Hoffmann kennen gelernt und in gemeinsamer Zusammenarbeit „I am alive“ („Ich lebe“) bei der Berliner „Schreibmaschine“ erstmalig auf eine deutsche Bühne gebracht. Ein Stück, was vor allem die junge Musicalgeneration Ende der 2000er begeisterte – eine Begeisterung, die auf Hoffmann überschwappte, so dass er sich direkt auf den Weg machte, um zu recherchieren, wie man diesen grandiosen Stoff für Deutschland adaptieren könnte.
Im Fürther Stadttheater nicht physisch anwesend und dennoch liebevoll involviert ist Armin Kahl, ehemals Dr. Fine / Dr. Madden, der als späterer Ersatz für Ramin Dustdar die Rolle übernahm und sich aufgrund seines derzeitigen Engagements bei „Les Misérables“ in St. Gallen mit weihnachtlichen Grüßen und medizinischen Ratschlägen via angedeutetem Facecall aus München meldet. Ebenfalls einen Videogruß schickt Komponist Tom Kitt und gratuliert dem deutschen „Next to Normal“-Team zu seiner verdienten zehnjährigen deutschsprachigen Erfolgsgeschichte.
Auch die Band unter der Leitung von Christoph Wohlleben kommt in der gleichen Besetzung wie vor zehn Jahren zusammen und gibt der fantastischen Musik von Tom Kitt den passenden Klang. Dass „Next to Normal“ auf seine Art und Weise besonders und eben kein typisches Musical ist, hat dieses Stück von Anfang an ausgemacht und wurde nicht umsonst mit dem Tony Award für beste Orchestrierung ausgezeichnet. Rockig und zugleich so gefühlvoll, zudem eine Band, die es hervorragend versteht, die vielschichtige Musik gekonnt zu interpretieren und umzusetzen, lassen gerade diese konzertante Version zu einem ganz besonderen Erlebnis werden.
In zehn Jahren mag sich vieles verändert haben – das Leben schreibt seine Geschichten, und der eine oder andere wird an diesem Abend vielleicht auf sein eigenes, persönliches letztes Jahrzehnt zurückblicken. Umso schöner ist es, dass man hier und heute wieder so miteinander vereint ist.
Diese Reunion ist wahrlich ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk – für die Zuschauerinnen und Zuschauer, die damals in Fürth nicht dabei waren und jetzt diese Magie des Ursprungs erleben können, für die Fans, die die letzten zehn Jahre miterlebten und das Stück mit all seinen 30 Folgeinszenierungen im deutschsprachigen Raum (inklusive Amateurproduktionen) seit der ersten Preview 2013 zum Erfolg führten, und vor allem für die involvierten Künstlerinnen und Künstler, für die sich diese Tage in Fürth wie ein Nach-Hause-kommen anfühlen. Von einem normalen Klassentreffen kann hier keine Rede sein. Es ist herzerwärmend, emotional, bewegend und zugleich wunderschön – hier hat eine Geschichte doch einen wichtigen berührenden Abschluss gefunden. Und wer weiß, vielleicht sieht man sich ja in zehn Jahren wieder. Fast normal eben.
Text: Katharina Karsunke