„Notre Dame“ (Foto: Dominik Lapp)
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Plädoyer gegen Ausgrenzung: „Notre Dame“ in Bad Hersfeld

Es ist ein großartiges Plädoyer gegen Rassismus sowie die Ausgrenzung von Andersdenkenden und Fremden, was bei den Bad Hersfelder Festspielen jetzt zur Uraufführung gekommen ist. Intendant Joern Hinkel hat sich zusammen mit Dramaturg Tilman Raabke dem weltberühmten Roman „Der Glöckner von Notre Dame“ von Victor Hugo angenommen und eine eigene Fassung mit dem Titel „Notre Dame“ für die Bühne geschrieben, die exzellent in die Stiftsruine passt.

Laut Angaben der Autoren, stammt jeder Satz, der auf der Bühne gesprochen wird, aus dem Roman – und alle Sätze dieses rund dreistündigen Abends wirken tatsächlich unglaublich aktuell. Im Mittelpunkt steht bei Hinkel und Raabke aber nicht der Glöckner, sondern das Gesamtgeschehen, das sich im Schatten der Kathedrale abspielt. Der Titel „Notre Dame“ ist somit treffend gewählt und stellt keine einzelnen Figuren in den Fokus der Handlung.

Im Grunde wurde das Stück vom 15. Jahrhundert in die Gegenwart transferiert, ohne es zu verfremden oder übertrieben zu modernisieren. Durch ein gelungenes Wechselspiel von Erzählung und Schauspiel, untermalt von einem stimmigen Soundtrack (Musikalische Leitung: Jörg Gollasch), schafft es Joern Hinkel – in Personalunion Intendant, Autor und Regisseur – mithilfe einer äußerst starken Riege von Schauspielerinnen und Schauspielern, eine spannende Story auf die Bühne zu bringen. Oftmals durchbrechen die Spielenden dabei die vierte Wand und wenden sich immer wieder direkt an das Publikum.

„Notre Dame“ (Foto: Dominik Lapp)

Der Roman gehört mit seiner poetischen Sprache zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur, viele kennen den Klassiker von Victor Hugo aus dem Film mit Gina Lollobrigida als Esmeralda und Anthony Quinn als Quasimodo als schwülstige Liebesgeschichte inszeniert, die den Fokus stark auf das ungleiche Paar richtet. Bei den Bad Hersfelder Festspielen ist die Geschichte von Quasimodo und Esmeralda aber nur ein Teil der Inszenierung.

Joern Hinkel hat mit seinem Team die romantischen, manchmal auch grotesken Szenen sowie die historischen und philosophischen Betrachtungen des Romans einbezogen und wirft damit Fragen auf zu Ausgrenzung, Vorurteilung und gesellschaftlicher Stimmungsmache, die in unserer von Pandemie, Rassismus und Verschwörungstheorien geprägten Zeit aktueller denn je sind.

Das Theaterstück „Notre Dame“ ermöglicht somit einen sehr vielschichtigen Blick auf Victor Hugos Romanvorlage. Dabei haben die Autoren die kühne, moderne Konstruktion des Romans mit all ihren Abschweifungen, ihren vielfältigen Verästelungen, ihren Zeitsprüngen und Perspektivwechseln und Hugos Erzählweise in ihre Bühnenfassung einfließen lassen.

„Notre Dame“ (Foto: Dominik Lapp)

Damit das Publikum schon vor Beginn der Aufführung in das Paris des ausgehenden 15. Jahrhunderts eintauchen kann, ist im Park vor der Stiftsruine eine lebende Installation namens „Chimaerium“ entstanden. Durch einen Mix aus Skulpturen, Bühnenräumen, Ausstellungsstücken, wissenschaftlichen Tafeln und Toncollagen entsteht dort in Gehegen und Käfigen der Eindruck einer Wandermenagerie, wie man sie früher von Jahrmärkten kannte.

Um aus der Bad Hersfelder Stiftsruine die Kathedrale Notre Dame entstehen zu lassen, setzt das Produktionsteam neben dem gelungenen Lichtdesign von Ulrich Schneider auf das so genannte Mapping von Sheidan Zeinalov und Maximilian Pfisterer. Dabei werden computeranimierte Projektionen eingesetzt, die exakt auf die Architektur der Stiftsruine zugeschnitten sind. So scheinen sich die historischen Sandsteinwände zu bewegen, man erhält den Eindruck, dass plötzlich Steine aus dem Mauerwerk fallen oder das Kirchenschiff in Brand steht.

Ergänzt wird dieses Mapping durch das wandelbare Bühnenbild von Jens Kilian, der zwei mehrstöckige gerüstähnliche Aufbauten entworfen hat, die sich fließend in das Mauerwerk der Ruine einfügen und vielseitig eingesetzt werden können, da sie drehbar sind und so ganz schnell Häuser, ein Bordell, die Kathedrale oder ein Gefängnis entstehen lassen. Ein weiteres zentrales Element ist eine große Glocke, die von Quasimodo geschwungen wird. Sehenswert sind außerdem die Kostüme – eine Mischung aus Historie und Überzeichnung – von Daniela Selig, die mit ihren Stoffen und Schnitten jede Figur und jeden Charakter wunderbar visualisiert.

„Notre Dame“ (Foto: Dominik Lapp)

Beim Narrenfest taucht die mysteriöse Esmeralda auf, die mit ihrem anmutigen Tanz alle in ihren Bann zieht. Dazu zählt neben dem Glöckner Quasimodo der Erzdiakon Claude Frollo und damit eine der sicherlich interessantesten und widersprüchlichsten Charaktere der Literaturgeschichte – exzellent dargestellt von „Tatort“-Star Richy Müller. Er gibt einen diabolischen Frollo, der im Hintergrund die Fäden zieht und zusammenhält. Schauspielerisch glänzt Müller dabei in jeder Sekunde. Kaum betritt er die Bühne, beherrscht er die jeweilige Szene. Die innere Zerrissenheit Frollos – dieser innerliche Kampf zwischen Liebe, Besitz und Begierde – spielt Richy Müller mit leidenschaftlicher Inbrunst.

Auch der eitle Hauptmann Phöbus gehört zu den Männern, die von Esmeralda fasziniert sind und dem Oliver Urbanski ein starkes Profil verleiht. In diese Riege reiht sich außerdem Mathias Schlung als erfolgloser Dichter Gringoire ein, der mit Anouschka Renzi (in einer Mehrfachrolle unter anderem als Puffmutter und Adlige) und Günter Alt (unter anderem als Clopin) wie ein Erzähler durch die Handlung führt.

Schlung ist ein genauso sympathischer wie hinreißender Gringoire, Anouschka Renzi fasziniert dagegen durch ihre Wandlungsfähigkeit, wie sie zwischen mehreren Rollen wechselt, dem Publikum die Ereignisse einordnet und dann wieder Teil der Handlung wird. Mit großer Bühnenpräsenz überzeugt neben Renzi aber auch Günter Alt, der in einer Szene noch als Clopin im Hof der Wunder den Ton angibt und in der nächsten Szene die Rolle eines Richters einnimmt.

„Notre Dame“ (Foto: Dominik Lapp)

Cathrine Sophie Dumont gelingt es, der Tänzerin Esmeralda etwas Mystisch-Geheimnisvolles zu verleihen. Schon ihr Tanz wirkt anmutig und filigran und doch so leidenschaftlich – genauso wie ihr Schauspiel, wenn sie sich im Gefängnis Frollo widersetzt. Ihr zur Seite steht Karla Sengteller als Ziege Djali, der es trotz ihrer stummen Rolle gelingt, in Erinnerung zu bleiben. Kürzere, aber nicht weniger eindrucksvolle Auftritte haben Thorsten Nindel als König Ludwig XI., Lara Aylin Winkler als Fleur-de-Lys, Luca Lehnert als Robin Poussepain sowie Jürgen Hartmann als Spicali.

Atemberaubend ist, dass Robert Nickisch als Quasimodo relativ wenig Textanteil hat und sich deshalb insbesondere durch seine Körpersprache ausdrückt. Extrem stark gibt er den durch seine Tätigkeit fast tauben Glöckner als eine von der Gesellschaft verlachte und ausgegrenzte Kreatur. Nickisch gelingt es mit nur wenigen Sätzen, seinem Habitus, der starken Bühnenpräsenz und dem feurigen Spiel, ein beeindruckendes Bild von Quasimodo zu zeichnen. Die selbstlose Liebe, mit welcher der Glöckner Esmeralda zur Seite steht, nimmt man Robert Nickisch zu jeder Zeit ab.

Wenn Quasimodo die Tänzerin zum Schluss zu retten versucht, dabei den Erzdiakon Frollo erdrosselt, um dann eng umschlungen mit Esmeralda zu sterben, ist es zusammenfassend wirklich faszinierend zu sehen, wie alle Figuren in „Notre Dame“ scheitern. Sie alle scheitern bei dem Versuch zu lieben.

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".