Eindrücklich und bedrückend: „Das Tagebuch der Anne Frank“ in Münster
Die kleinen, intimen Theatermomente sind oftmals die eindrücklichsten. So ein besonders eindrücklicher, aber auch bedrückender Moment ist dem Theater Münster mit der Mono-Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“ gelungen. In knappen Bildern schildert die Oper des russischen Komponisten Grigori Frid in der Inszenierung von Jan Holtappels das Schicksal des 13-jährigen jüdischen Mädchens Anne Frank.
Holtappels hat Annes Träume und ihre Flucht aus der Realität als bedrückendes Kammerspiel inszeniert, das bereits im Foyer beginnt. Dort, wo die Zuschauer auf den Beginn der Vorstellung warten, tritt die Sopranistin Kathrin Filip aus der Menge hervor und umreißt kurz die Biografie Anne Franks, bevor die Zuschauer selbst Teil der Handlung werden, indem sie zu Annes 13. Geburtstag ein Ständchen singen. Auf den Geburtstag folgt der Schulbesuch, ein Gespräch mit dem Vater und schließlich die Vorladung der Gestapo.
All das spielt im Foyer zwischen den dunklen Garderobenschränken und Spiegelwänden. Wenn Kathrin Filip, die die Rolle der Anne Frank übernommen hat, weiterrennt, ist ihr das Publikum dicht auf den Fersen. Dann jedoch, als die Vorladung der Gestapo eintrifft, flüchtet sie in den Keller des Theaters, in die eigentliche Spielstätte, die Studiobühne U2. Dort, wo nur etwa 50 Zuschauer Platz finden, kauert die Sopranistin in einer dunklen Ecke, das Tagebuch fest umklammert. Die Opernbesucher befinden sich mit ihr bei der Familie Frank, die sich vor den Nazis in einem Amsterdamer Hinterhaus versteckt. Gekleidet ist Anne in Kleidung des 21. Jahrhunderts (Kostüme und Bühne: Melanie Walter), was die Identifikation mit der Figur womöglich erleichtert.
In 21 Bildern werden in der Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“ die wichtigsten Stellen aus dem Tagebuch der Anne Frank vertont. Zu Gehör kommt dabei in Münster aber nicht die Fassung für Kammerorchester, sondern die ganz puristische Klavierfassung. Fabian Liesenfeld gelingt es durch sein mal virtuoses, dann wieder ganz filigranes Klavierspiel, die jeweilige Stimmung perfekt wiederzugeben. Annes seelischer Druck, der auf ihr lastete, durchzieht ihre gesamten dokumentarischen Tagebuchaufzeichnungen und ist durch die Musik von Grigori Frid und die Inszenierung von Jan Holtappels allgegenwärtig.
Die Zuschauer können sich gut in die Hinterhausatmosphäre hineinfühlen, denn die Bühne ist klein, sie ist leer und dunkel. Ein Teil ist zunächst mit braunen Papierbahnen verhüllt. Als das Papier fällt, werden dahinter 21 auf verschiedenen Höhen von der Decke hängende Glühlampen sichtbar. Kathrin Filip gelingt es in diesem Szenarium sehr gut, Annes Gefühlswelt zu transportieren. Das Libretto der Oper, das nahezu wortgetreu aus den Originaltexten des Tagebuchs entstanden ist, wird in eine musikalisch-lyrische Erzählweise integriert. Dabei ist der Emotionsgehalt von Text, Musik und künstlerischer Interpretation enorm hoch.
Passend zur Situation und ihrer Rolle, überzeugt Kathrin Filip nicht einfach mit klassischem Schöngesang, sondern mit ganz besonders authentischem Gesang. Da klingt ein Ton vielleicht auch mal nicht so schön, weil es die Situation eben erfordert. Filip schafft es mit ihrem Gesang, ihrem Schauspiel, ihrer Mimik und Gestik, Annes tiefgründige Gedanken, ihre naive Freude über ein Geschenk, aber ebenso ihre bloße Angst und den Willen, tapfer zu bleiben, einen beklemmenden Ausdruck zu verleihen. Was die Künstlerin hier zusammen mit ihrem Regisseur geschaffen hat, ist so viel mehr als ein Kammerspiel. Es ist die unverblümte Seelenschau eines 13-jährigen verfolgten Mädchens.
Besondere Beachtung wird dabei auch den weiteren Charakteren – ihrem Vater, ihrer Mutter, der Schwester Margot – geschenkt, die alle nur in Annes Monologen, aber nie als Person erscheinen. Diese besondere Vielschichtigkeit, die dadurch erreicht wird, erweitert exzellent den Handlungsspielraum des Dramas. Nur eine Figur tritt neben Anne in eine Szene – eine Namenlose, gespielt von Lucia Hasenburg, die ihrer stummen Rolle nur durch ihren gefühlslosen Gesichtsausdruck und ein paar Bewegungen ein starkes Profil verleiht, das über den üblichen Einsatz einer Statistin weit hinausgeht.
„Hier endet Annes Tagebuch.“ Mit diesen Worten endet nicht nur die literarische Vorlage, sondern auch die Oper. Das Licht erlischt, und nach einer 80-minütigen Gefühlsachterbahn bleibt es zunächst einen Moment lang still, bevor eine völlig verdiente Welle des Beifalls für „Das Tagebuch der Anne Frank“ losbricht.
Text: Dominik Lapp