Intelligente Inszenierung: „La Bohème“ in Osnabrück
Puccini sorgt für stehende Ovationen, Bravorufe, mehrere Vorhänge – das Publikum ist nach der Aufführung von „La Bohème“ am Theater Osnabrück sicht- und hörbar begeistert. Und das zu Recht. Denn Floris Visser, zum ersten Mal als Regisseur in Osnabrück tätig, hat Giacomo Puccinis wohl bekannteste Oper äußerst intelligent inszeniert. Die tragische Liebesgeschichte des Dichters Rodolfo und der an Tuberkulose erkrankten Stickerin Mimi erzählt Visser auf eine völlig neue Art und Weise. Der Clou: Er lässt Gevatter Tod (Mark Hamman) die komplette Geschichte begleiten.
So ist der Tod, sichtbar nur für das Publikum, bereits anwesend, als sich Mimi und Rodolfo das erste Mal begegnen. Trifft sich das frisch verliebte Paar mit Freunden im Café Momus, taucht der Tod in Person des Spielzeughändlers Parpignol auf. Wenn sich die Liebenden aufgrund von Mimis Erkrankung und Rodolfos krankhafter Eifersucht trennen, ist der Tod ebenfalls nicht fern. Doch die stärkste und ergreifendste Szene gelingt, wenn Rodolfo ein letztes Mal den Namen der im Sterben liegenden Mimi ruft, während diese Hand in Hand mit dem Tod davonzieht.
Floris Visser hat es mit einer so simplen Idee – der Personifizierung des Todes in Form eines Mannes, wie es zum Beispiel schon in dem Film „Rendezvous mit Joe Black“ oder im Musical „Elisabeth“ umgesetzt wurde – tatsächlich geschafft, eine bereits häufig inszenierte Oper ganz behutsam einer Frischzellenkurz zu unterziehen. Er beweist damit, dass es gar keiner krampfhaft modernisierten Inszenierung bedarf, um ein Stück der Gegenwart anzupassen oder als zeitlosen Stoff zu präsentieren.
Auch optisch wirkt „La Bohème“ in Osnabrück sehr jung: Keine muffige Mansardenwohnung, in der die Künstlerfreunde wohnen, und keine für das 19. Jahrhundert so typischen Kostüme, sondern Anzughosen, weiße Hemden, Mäntel und für Musetta ein schwarzes modernes Kleid. Das Bühnenbild von Dieuweke van Reij, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, zeigt statt einer Mansardenwohnung nur eine im schwarzen Nichts endende eine Straße – ein schönes Sinnbild für die Armut, mit der Rodolfo und seine Freunde tagtäglich konfrontiert werden.
Statt eines wärmenden Ofens gibt es im ersten Bild nur einen Gullydeckel in der Straße, in dem Feuer gemacht wird. Durch einige Stühle und Tische entsteht im zweiten Bild das Café Momus, im dritten Bild dann lediglich durch schummrig-blaues Licht (Lichtdesign: Alex Brok) unter Einsatz von Bühnennebel eine Zollwache im Pariser Winter und im vierten Bild letztlich wieder das Zuhause von Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline. Durch das eher spärliche, jedoch sehr stimmige Bühnenbild liegt der Fokus immerzu auf den Sängern – und die sind durchweg eine Wucht und der Musik von Puccini mehr als gewachsen!
Allen voran ist es Lina Liu, die in der Rolle der Mimi das Publikum von der ersten Sekunde packt und bis zum Schluss nicht mehr loslässt. Ihre Mimi ist so wunderbar zart, aber dennoch packend und im Angesicht des Todes dann resignierend und berührend. Mit ihrem strahlenden Sopran intoniert Liu ihre Arien glockenklar. Ihr in nichts nach steht JunHo You, der als schmachtender Dichter Rodolfo vor Liebe glüht. Mit seiner akzentuierten, schneidenden Stimme gelingt dem Tenor ein Glanzmoment nach dem anderen. Als großartig erweist sich auch die stimmliche Harmonie zwischen Lina Liu und JunHo You. Jedes Duett wird so zu einem Höhepunkt und garantiert große Gefühle von Anfang bis Ende.
Ebenfalls hervorragend besetzt sind die Nebenrollen: Susann Vent gibt die Musetta als sexy Vamp und schafft es spielend, ihrer Optik auch stimmlichen Ausdruck zu verleihen. Daniel Moon singt den Maler Marcello mit volltönender Stimme, dem Musiker Schaunard verleiht Jan Friedrich Eggers ein in Erinnerung bleibendes Profil und Shadi Torbey in der Rolle des Philosophen Colline singt und spielt ebenfalls rollendeckend. Mark Hamman beweist dagegen, dass weniger oft mehr ist. Während er als Parpignol nur eine kurze Passage singt, gelingen ihm in der stummen subtilen Rolle von Gevatter Tod beeindruckende Auftritte – ganz besonders die von Floris Visser so hervorragend inszenierte Schlussszene. Großes Lob gebührt zudem Markus Lafleur für die Choreinstudierung. Denn sowohl der Chor als auch der Extra- und Kinderchor singen immer stimmstark und punktgenau.
Getragen werden all die Künstler auf der Bühne von einem hervorragend aufspielenden Osnabrücker Symphonieorchester unter der Leitung von Andreas Hotz, der seine Musiker mit Präzision durch die abwechslungsreiche Puccini-Partitur treibt. Den Balanceakt zwischen Piano und Forte meistert das Orchester mit Bravour. Die Musik Puccinis streichelt die Gehörgänge dabei immerzu, klingt mal schmerzlich-dramatisch oder aber ausgeglichen und ausdrucksvoll.
Henri Murgers bekannte Künstlerszenen, die 1845 als Zeitungsroman erschienen, boten eine geeignete literarische Grundlage für die Oper „La Bohème“. Und diese Geschichte über die alltägliche Härte des prekären Daseins inmitten der schillernden Stadt Paris wird am Theater Osnabrück hervorragend erzählt. Die dramatisch-romantische Handlung, die schwelgerisch-schwärmerische Musik von Puccini und die künstlerischen Höchstleistungen beweisen einmal mehr, dass es nicht immer Städte wie Frankfurt, München oder Wien sein müssen, um einen erstklassigen Opernabend auf höchstem Niveau zu erleben. In Osnabrück geht das auch. Chapeau!
Text: Dominik Lapp