„Orfeo es Euridice“ (Foto: Tim Müller)
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Im schlichten Gewand: „Orfeo ed Euridice“ in Hannover

Die vielseitige belgische Regisseurin Lisaboa Houbrechts zeichnet sich durch ihre einzigartige Fähigkeit aus, Musik, Bildende Kunst, Tanz und Literatur in innovative Schöpfungen zu vereinen. Das hat sie nun auch an der Staatsoper Hannover unter Beweis gestellt, wo sie ihre erste Zusammenarbeit mit einem deutschen Staatstheater in Form einer spannenden Neuinterpretation von Christoph Willibald Glucks Oper „Orfeo ed Euridice“ (Libretto: Ranieri de‘ Calzabigi) präsentiert. Damit markiert sie sogleich einen Meilenstein, indem sie das hannoversche Ballett- und Opernensemble erstmals vereint.

Auch bei Houbrechts ist es Orpheus, der seine geliebte Eurydike aus dem Reich der Toten zurückholen möchte. Doch in enger Zusammenarbeit mit dem renommierten Choreografen Diego Tortelli wird der Orpheus-Mythos in neuem Licht betrachtet: Was, wenn Eurydike selbst den Wunsch hat, nicht zurückzukehren, sondern bewusst aus dem Leben geschieden ist?

In der äußerst interessanten Inszenierung wird die emotionale Herausforderung beleuchtet, weiterzuleben, nachdem man einen geliebten Menschen verloren hat, weil dieser sich selbst für dieses Schicksal entschieden hat. Ihre Bilder unterstützt die Regisseurin durch Tanz, verzichtet dabei aber auf Glucks Balletteinlagen. Vielmehr setzen sie und Tortelli die Tänzerinnen und Tänzer ein, um die Gefühle der Protagonisten sowie des Chors zu visualisieren und ihnen noch stärkeren Ausdruck zu verleihen, was hervorragend gelungen ist. Mal sind die Bewegungen anmutig und weich fließend, mal zuckend, aber immer genau richtig, nachdem man sich daran gewöhnt hat, dass in dieser Inszenierung Gesang, Tanz und Musik gleichberechtigt sind.

„Orfeo es Euridice“ (Foto: Dominik Lapp)

Mezzosopranistin Nina van Essen passt sich nahtlos in die Choreografie ein und verleiht ihrem Orpheus die ganze Qual einer gepeinigten Seele. Ihr raues, dunkles Timbre, durchdrungen von kraftvollem Angriff und melancholisch verhauchten Tönen, trägt dazu bei. Ursprünglich für einen Soprankastraten konzipiert, passt die Partie stimmlich perfekt zu van Essens Tonumfang. Eine ausdrucksstarke, strahlend frische Euridice gibt Meredith Wohlgemuth, die stimmlich und darstellerisch fulminante Akzente setzt. In der kleinen Nebenrolle der Amore (in dieser Inszenierung eine Ärztin) überzeugt zudem Luisa Mordel mit ihrem klaren Gesang. Neben den drei Gesangssolistinnen übernehmen die Tänzerinnen und Tänzer des Staatsballetts tragende Rollen in „Orfeo ed Euridice“ und haben großen Anteil am emotionalen Gesamtbild der Inszenierung.

Die dunkle Bühne von Clémence Bezat lässt viel Raum für das Tanzensemble und den von Lorenzo Da Rio solide einstudierten Chor. Nach der Pause wird dann die Unterwelt durch schwarze, von oben nach unten zerfallende Säulen symbolisiert. Die Düsternis spiegelt sich zudem in den von Schwarz, Braun und Beige dominierten Kostümen von Anna Maria Rizza wider.

Die insgesamt zurückhaltende Inszenierung im schlichten Gewand lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Gefühle der Protagonistinnen, sondern auch auf Glucks Musik, die von Barock-Experte Benjamin Bayl meisterhaft interpretiert wird. Unter seiner Stabführung zeigt das Niedersächsische Staatsorchester eine erstaunliche Vielfalt an Klangfarben. Die Musik wechselt bei präziser Linienführung zwischen intensiv-überwältigenden und anmutig-leichten Klängen, was immer wieder so überwältigend ist, dass man förmlich den Atem anhält. Die stehenden Ovationen am Premierenabend sind folglich mehr als verdient.

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".