Perfekt: „West Side Story“ in Schwerin
Es gibt Musical-Momente, die kann man nicht inszenieren. „Ich weiß jetzt, wie man tötet, denn ich weiß jetzt, wie man hasst“, sagt Maria kurz vor dem Finale von „West Side Story“ in Schwerin, die Waffe auf Chino gerichtet. Und ein überdimensionaler Vollmond geht hinter dem Schweriner Schloss in Deckung. Es scheint fast so, als wolle sich die Realität mit Kaiserwetter und malerischer Kulisse an diesem Juliabend der Kunst andienen, um einen perfekten Abend zu gewährleisten, mehr als das: womöglich die beste Produktion des Stückes, welche man derzeit im deutschsprachigen Raum bewundern kann.
Das Bühnenbild von Stephan Prattes, der die Prunkkuppel des Schweriner Schlosses nebst Erzengel Michael als Ruine nachgebaut hat, ist nicht minder atemberaubend als das Original: Dort, wo einst Aristokraten residierten, wird jetzt Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Die romantische Utopie des Märchenreichs, wo Prinz und Prinzessin glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben, hat man in den Sand gesetzt. Wortwörtlich, wohlgemerkt! Ansonsten nämlich lässt das „West Side Story“-Kreativteam um Daniel Huppert (Musikalische Leitung) und Simon Eichenberger (Inszenierung und Choreografie) nichts anbrennen.
Das beginnt bei der Auswahl der Akteure. Selten erlebt man eine solch stimmige Cast – und ein derart glaubhaftes Liebespaar: Jörn-Felix Alt geht als Tony bemerkenswert differenziert zur Sache. Er überzeichnet nicht, er stellt nicht her, er interpretiert – und beschert dadurch seinem Publikum zahlreiche Gänsehautmomente. So wird aus „Maria“ tatsächlich „the most beautiful sound“. Darstellerisch dagegen brennt er für seine Angebetete – und ein Feuerwerk an frischer, einnehmender Präsenz ab, vom ersten Auftritt bis zum letzten Atemzug. Seine Spielpartnerin Mercedesz Csampai kann als Maria dieses Weltklasseniveau locker halten. Ihre klassisch geführte Stimme hätte zweifellos Leonard Bernstein selbst zur Ehre gereicht. Sie ist ganz große Oper weitab von strapaziösem Belcanto und mischt sich, erstaunlicherweise gerade in den Unisono-Passagen, hervorragend mit Alts Tenor.
An dieser Stelle muss daher die Tonabteilung unter der Leitung von John Schröder gelobt werden, die akustischen Hochgenuss garantiert – unter erschwerten Bedingungen, denn das Orchester agiert aus dem Bühnenuntergrund. Instrumente und Stimmen sind derart fein aufeinander abgestimmt, man weiß oft kaum zu sagen, wo Bogenstrich aufhört und Gesang beginnt. Trotzdem bleibt jedes Wort verstehbar, trotzdem erfolgt jeder Einsatz beispielhaft präzise. Davon profitiert auch der Rest des hervorragenden Ensembles. Sidonie Smith changiert punktgenau zwischen spröde und spritzig, zwischen femme fatale und femme fragile. Nikolas Heiber (Riff) ist seinen Jets ein ebenso magnetischer Mittelpunkt wie Joey Ferre (Bernardo) seinen Sharks. Selbst die kleineren, reinen Schauspielrollen bleiben im Gedächtnis – Matthias Unruh (Doc), Rüdiger Daas (Schrank) und Özgür Platte (Krupke, Glad Hand) sei Dank.
Sie alle können sich bei „West Side Story“ auf eine Regie verlassen, die niemanden im Stich lässt, stilsicher den schmalen Grat zwischen Kitsch und Kunst nimmt und mit glänzenden Einfällen punktet, exemplarisch hierfür die Beerdigung der Gangleader zu den Klängen von „Somewhere“: Die Akteure pflanzen ein Meer aus weißen Blumen, um es gleich anschließend zu opfern – als Grabbeigabe. Da lässt sich selbst das Bühnenbild nicht lumpen: Ein Kurzschluss, Funken stieben, schon wird aus dem Halogen-Schriftzug „Tradition und Fortschritt für modernes Wohnen“ der Songtitel. Irgendwo will man da gleichwohl schon längst nicht mehr sein. Jedenfalls nirgendwo lieber als hier.
Text: Jan Hendrik Buchholz