Schwache Vorlage, großartig verwandelt: „Pop Punk High(School)“ in Hildesheim
Kennen Sie den? Avril Lavigne, Anfang der 2000er die weibliche Speerspitze der Pop-Punk-Bewegung, wurde nach ihrem Suizid 2003 durch eine Doppelgängerin ersetzt. Das klingt wie ein schlechter Witz. Ist auch einer. Aber einer, der sich beharrlich hält, durch immer neue, immer krudere „Beweise“ bis in unsere Tage Nachschub erhält. Und der gut genug ist, um die Vorlage für jenes Musical zu bilden, das am 15. April 2023 am Theater für Niedersachsen in Hildesheim seine europäische und deutschsprachige Erstaufführung erlebte: „Pop Punk High(School)“. Wer jetzt denkt, die Ausgangsidee sei schon abwegig genug, den belehren seine Autoren Anderson Cook (Buch und Texte) sowie Ben Lapidus (Musik und Texte) eines Besseren.
Wirklich eines Besseren? Entscheiden Sie selbst: Derek (Samuel Jonathan Bertz) ist der mittelmäßigste aller durchschnittlichen Normalo-Typen. Solide Skateboard-Skills, ganz passabler Gitarrist. Nicht weniger, aber eben auch kein bisschen mehr. Wie soll er da bei seiner Traumfrau Amanda Bunkface (Kathrin Finja Meier) landen, zumal diese mit dem absoluten Überflieger der Schule geht: Skeet (Louis Dietrich), Liebling des Schulleiters (Raphael Dörr)? Vielleicht ja so: Zufällig befreit er den in einer Axe-Sprühdose gefangenen Geist von Avril Lavigne (Katharina Wollmann), die ihm drei Wünsche erfüllen will, wenn er ihren Mörder entlarvt. Und welche Wünsche kann man von einem adoleszenten Knaben erwarten? Richtig: ein magisches Skateboard, eine magische Gitarre – und einen meterlangen Penis. Kein Wunder, dass er ob seiner Verblendung nicht nur die eigentliche Aufgabe aus den Augen verliert, sondern auch seine beste Freundin Tib (Lucia Bernadas Cavallini), die ihm zuliebe sogar ihren großen Traum opfern würde, die Abschlussrede zu halten.
Dafür gewinnt sie das Herz des Mädchenschwarms Skeet, der sich endlich seinen Gefühlen und pseudophilosophischen (Un-)Tiefen stellt, gegen die er bisher so sehr aufbegehrt hat. Derek gewinnt immerhin die Erkenntnis, das wahre Freundschaft mehr wert ist als ein gigantisches Gemächt. Amanda gewinnt den Bandcontest. Und der Schulleiter gewinnt eine Freikarte für den Knast als Mörder von Avril Lavigne: Er selbst war, wen wundert’s noch an dieser Stelle, als Doppelgänger(in) an ihre Stelle getreten, um ihren guten (Nach-)Ruf zu zerstören.
Gegen grelle Übertreibungen, gegen zotigen Humor ist erst mal nichts einzuwenden – solange sie ernsthaft betrieben werden, solange man also das Gefühl hat, dass seine Schöpfer noch irgendetwas ernst nehmen. Selbst ein Stück wie „Spamalot“, an Absurdität kaum zu überbieten, überdauert seine eigene Kurzweilig- und Schnelllebigkeit letzten Endes als große Verbeugung vor dem Genre Musical – gerade weil es dieses so gut kennt und so gekonnt persifliert. Wem dieser Vergleich etwas hochgegriffen erscheint: Anderson Cook und Ben Lapidus selbst legen die Messlatte derart hoch, dass sie sie fast zwangsläufig reißen müssen, scheitern damit letztlich krachend an ihrem Anspruch, ein Musical in der Tradition von Rock-Musicals wie Jonathan Larsons „Rent“ (!), The Who’s „Tommy“ (!!) oder Andrew Lloyd Webbers „Jesus Christ Superstar“ (!!!) zu schreiben.
Wohlgemerkt: Das gilt fürs Buch, nicht für die Musik. Die wurmt sich zwar nicht ins Ohr, läuft aber von vorn bis hinten gut durch, funktioniert als erstaunlich gut gealterte Referenz an die Helden ihrer Ära: Hier wippt der Fuß im unverkennbaren Groove von Green Day in ihrer „Dookie“-Phase, dort zwinkert einem Blink-182s „All the small Things“ freundlich zu. Und natürlich wird das Vergnügen glatt verdoppelt, wenn der Score so spielfreudig präsentiert wird wie von der fünfköpfigen Band um Andreas Unsicker an Keyboard und Klavier. Bass, Schlagzeug und ein Gitarrendoppel schieben die Inszenierung von Oliver Pauli über die Rampe, sorgen für den nötigen Druck, von dem sich das Ensemble dankbar anstecken lässt. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn hier brennen alle, und niemand lässt etwas anbrennen: Samuel Jonathan Bertz setzt als Protagonist den strahlenden Grundton, auf den sich seine Mitstreitenden einschwingen. Aus dieser spielfreudigen und frischen Cast sticht Lucia Bernadas Cavallini noch mal besonders hervor, und auch Katharina Wollmanns „Anti-Attitüde“ kann verfangen.
Verständlich, dass sich das neunköpfige Bühnenpersonal zuweilen ein wenig selbst feiert. Denn auch wenn die besuchte Aufführung zuweilen unter der Last der Dernieren-Gags schier erdrückt wird: Die unbändige Freude, das ehrliche Von-der-Rolle-Sein nebst Aus-der-Rolle-Fallen sind immer noch um Längen lustiger als das Buch. Alles in allem mag es also gute Gründe geben, warum „Pop Punk High(School)“ ein vergleichsweise selten gespieltes Werk ist. Andererseits war am Satz „Sie machen das Beste daraus“ selten so viel dran wie hier.
Text: Jan Hendrik Buchholz