Mehr als nur Schwarzweiß: „Scholl – Die Knospe der Weißen Rose“ in Fürth
Spätestens seit den letzten Spielzeiten ist es kein Geheimnis mehr, dass das Stadttheater Fürth gerne unbekannte Wege geht und sich hierbei neu entdeckt, entfaltet und schlussendlich große Erfolge feiert. Manchmal gehört vielleicht ein bisschen Mut dazu, ein bisschen Risikobereitschaft, aber auch Vertrauen und Neugier, um sich vom Altbewährten zu lösen und letztendlich unberührten Stoffen eine Plattform zu bieten. So wie auch jetzt wieder geschehen, als das Musical „Scholl – Die Knospe der Weißen Rose“ aus der Feder von Titus Hoffmann (Buch, Liedtexte und Regie) und Thomas Borchert (Musik) in genau diesem Theater zur Uraufführung gekommen ist.
„Scholl – Die Knospe der Weißen Rose“ basiert auf einer wahren Begebenheit. Erzählt wird hierbei aber nicht, wie man als erstes denken könnte, die Geschichte der berühmten Widerstandsgruppe um die Geschwister Scholl, die mit der tragischen Verhaftung und Hinrichtung endete. Vielmehr widmet „Scholl“ sich den Menschen hinter der Gruppierung, zu einem Zeitpunkt, den diese als wichtigen Meilenstein in ihrem noch so jungen Leben erfahren: Es ist der Wechsel von der anfänglichen, ja noch kindlichen Begeisterung für die nationalsozialistische Bewegung zur kritischen Hinterfragung und letztendlichen Abwehr und radikalen Gegenantwort. Ort des Geschehens ist die Coburger Hütte, eine Skihütte in den Tiroler Alpen, wo die Geschwister mit Freunden den Jahreswechsel 1941/42 verbringen und fernab des Krieges und des verhassten Reichsarbeitsdienstes ein paar unbeschwerte Tage genießen möchten. Es sind Tage voller Höhen und Tiefen und obwohl jeder der jungen Leute sein eigenes Päckchen mit sich trägt, eint sie alle das Verlangen nach Sorglosigkeit und Ablenkung, das Interesse an verbotener, „entarteter“ Literatur oder Kunst und letztendlich auch ihre stützende Verbindung im Glauben zu Gott. Vor allem für Hans Scholl markiert der Jahreswechsel einen entscheidenden Wendepunkt, entschließt er sich doch in diesen Zeiten, aktiv in den Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime einzutreten und dafür zu kämpfen, wofür es sich lohnt im Äußersten auch zu sterben: die Freiheit.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Traute (Judith Caspari). Traute Lafrenz überlebte den Krieg, hielt das Andenken an ihre Freunde aufrecht und starb tatsächlich erst vor wenigen Wochen, wodurch im Stück eine spannende Verknüpfung zwischen bereits Vergangenem und der Gegenwart entsteht. Zum Zeitpunkt des Geschehens ist sie hoffnungslos verliebt in Hans (Alexander Auler) und erhofft sich auf der Hütte eine Rückkehr zu ihrer längst beendeten Sommerromanze. Judith Caspari gelingt die Charakterisierung der Traute äußerst beeindruckend und auf den Punkt. Ihre Protagonistin ist elegant, selbstbewusst und weiß eindeutig, was sie will – letztendlich ist es stets die Hoffnung, dass Hans ihre Gefühle erneut erwidert. Trotz ihrer starken Mitspieler hält Caspari im Stück die Fäden mit einer gekonnten Leichtigkeit zusammen und ist vor allem im Zusammenspiel von Traute, Hans und Sophie wunderbar ausdrucksstark. Gesanglich schöpft sie ihr facettenreiches Stimmvolumen faszinierend aus und begeistert sowohl im klangvollen Sopran als auch in den tiefer angelegten Tönen. Ihr großes Solo „Der Doppelgänger“ berührt nachdrücklich und lässt das Premierenpublikum lautstark applaudieren.
Für die meisten heutzutage ist Sophie Scholl der Inbegriff der „Weißen Rose“. Doch die wahre Keimzelle, sozusagen die Knospe der berühmten Gruppierung, steckt in Hans Scholl selbst und seiner bewussten Entscheidung, sich aktiv in den Widerstand zu begeben, als seine komplette Weltanschauung zunehmend ins Wanken gerät. Sinnbildlich begleitet ihn hierbei auf der Bühne eine kleine weiße Blume, die er stets bei sich trägt. Ein äußerst spannender und sehr gelungener Kniff, der das Musical sicher einzigartig macht, ist die Verwendung von Originaltexten aus der Feder des historischen Hans Scholl, der eine ausgeprägte Neigung zu Natur und Poesie besaß und als junger Mann im Schreiben Zuflucht fand. Seine Texte waren letztendlich die Basis für die späteren Flugblätter und erlangen im Stück durch die Lieder ihren Weg in die heutige Zeit. Keiner der Zuschauenden hat den wahren Hans Scholl gekannt – aber Alexander Auler lässt ein so präzises und genaues Bild seines Charakters entstehen, dass man am Ende des Abends beinahe denken könnte, man wäre Hans persönlich begegnet. Ein junger Mann, der nicht davon träumt, ein Held zu sein und den Krieg zu gewinnen, sondern viel eher mit sich und seiner Abwehr gegenüber einer Einstellung und Lebensweise kämpft, die man ihm zwanghaft aufzuerlegen versucht. Es sind die zentralen Fragen im Stück: Wann reicht es nicht mehr, sich passiv abzuwenden, wann muss man aktiv für sich und seine Ideologien kämpfen? Wann muss man Verantwortung übernehmen? Auler zeichnet das Gedankenkarussell, das im Kopf seines Protagonisten kreist, authentisch und lässt das Publikum sowohl stimmlich gekonnt als auch schauspielerisch exzellent in seine Gefühlswelt eintauchen.
Nicht physisch anwesend in den Tiroler Bergen, aber in Gedanken und Erinnerungen von Hans stets präsent und durch Rückblenden lichttechnisch gekonnt in Szene gesetzt, ist sein bester Freund und Wegbegleiter, der Halbrusse Alexander Schmorell, genannt Shurik. All der Gedankenaustausch hierzu diente letztendlich als Grundstock für die Flugblätter, welche wenige Monate später entstanden. Fin Holzwarts Shurik ist ein glaubwürdiger, schwärmerischer, künstlerisch affiner, hoffnungslos verliebter junger Mann, der sich offensichtlich und klar vom nationalsozialistischen Gedankengut abwendet. Stets miteinander präsent und in Interaktion knüpfen Auler und Holzwart ein unsichtbares Band – das Band, das stark von tiefer Vertrautheit zeugt. Diese Verbindung zwischen den beiden zieht sich durch die vielschichtige Handlung und bleibt hierbei letztendlich konstant bestehen.
Besetzungstechnisch überzeugt „Scholl“ auf ganzer Linie, kann man doch sagen, dass Musicaldeutschland großartige (Nachwuchs-)Künstlerinnen und Künstler aufweist, von denen in den kommenden Jahren noch einiges zu erwarten ist. Sandra Leitner ist nicht nur rein äußerlich ein gelungenes Ebenbild zu Sophie Scholl. Wie schon zuvor in ihrer Rolle als Monika bei „Ku’damm 56“, entsteht in ihrer Interpretation ein Charakter, der gerne mal aneckt und nicht nur einmal aus der Reihe tanzt. War Scholl noch wenige Jahre zuvor begeistertes BDM-Mitglied, erfolgt ihre Abkehr vom Nationalsozialismus mittlerweile klar und entschieden. Leitners Sophie ist humorvoll und impulsiv und gewinnt die Sympathie der Zuschauer schnell für sich, zeigt aber auch zugleich kämpferische und unbequeme, andererseits auch sehr mitfühlende und empathische Seiten auf. Gesanglich schöpft sie aus einer vollen Bandbreite und lässt sogar klassische Töne einfließen, was Sophies Charakter noch facettenreicher erscheinen lässt.
Eingerahmt werden Hans, Sophie und Traute von gemeinsamen Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern wie der Schwester Inge Scholl (Karolin Konert), die sich pflichtbewusst für ihre Geschwister verantwortlich fühlt, und die lebenslustige, mitfühlende Ulla (Lina Gerlitz), Tochter des nationalsozialistischen Lyrikers Hermann Claudius, und Freddy (Dennis Hupka), ein verschmitzter 17-Jähriger und Enkel des berühmten Theologen Carl Muth, der noch etwas naiv von einer Karriere als Wehrmachtssoldat träumt und letztendlich mit Ulla auf der Hütte anbandelt. Gerade Hupka gelingt es durch seine sympathische Spielweise mit ein wenig Komik und Leichtigkeit, die jugendlichen Sorgen und Gedanken zu durchbrechen. Szenen wie „Am Sonntag kommt zum Kaffeeklatsch der Führer“ verdeutlichen einmal mehr die Spielfreude dieser jungen Cast und bringen sicher einige im Publikum zum Schmunzeln.
Wenn auch die Handlung sich hauptsächlich auf einen Hauptschauplatz, die Coburger Hütte, konzentriert, ist diese keineswegs langatmig oder langweilig. Im Gegenteil: Das Buch lebt von faszinierender Komplexität und einem großen Facettenreichtum. Mehrere Ebenen werden bespielt und miteinander verworren: Rückblenden, Erinnerungen, Gedanken, Gegenwart sowie Zukunftsvisionen und auch der Switch in die heutige Zeit zu Traute sorgen für Abwechslung und enorme Vielschichtigkeit, die es dem Publikum aber zugleich nicht immer unbedingt einfach macht, zu folgen und hohe Konzentration erfordert. Titus Hoffmann und Thomas Borchert ist es gelungen, eine Geschichtsstunde der anderen Art zu kreieren und die historische Vorlage mit den eigenen Ideen gekonnt verschmelzen zu lassen. Bekannter Stoff wurde hier auf neue Art und Weise menschlich erzählt und auch für die jungen Leute heutzutage greifbar gemacht, geht es doch bei den sieben Freunden vor rund 80 Jahren letztendlich auch nur darum, nach ihrem Glück zu suchen und sich zu fragen, wo der Sinn des Lebens liegt. Wofür es sich lohnt zu brennen. Wofür sollte man „Flamme sein“?
Musikalisch zeugt „Scholl“ mit einer herausfordernden Partitur ebenso von einer tiefgehenden Vielschichtigkeit, Text und Musik bilden eine gut geformte Einheit. Es sind die Gedanken und Gespräche, die Handlungen und die Erinnerungen, die fließend vertont werden, solo oder mehrstimmig, in Balladen oder Up-Tempo-Nummern und das Wesen dieser Jugendgruppe ganz besonders charakterisieren. Sieben Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne beweisen auch hier wieder, dass wenige Personen mit ihrer bloßen Präsenz das Geschehen komplett ausfüllen können. Die Klänge der fünfköpfigen Band unter der Leitung von Rob Paul sind poppig, zum Teil rockig mit harten Gitarrentönen, aber auch jazzig oder weisen klassische Nuancen auf, welche die Stimmungslage der Protagonisten und die ausgefeilten Choreografien von Andrea Danae Kingston punktgenau unterstreichen. Im Anschluss an den Abend ist es nicht der eine, immer wiederkehrende Ohrwurm – vielmehr ist es das Verlangen, die Musik erneut zu hören und ein zweites Mal auf sich wirken lassen zu können.
Conny Lüders sorgt mit eher modernen, jugendlichen Kostümen für eine passgenaue Untermalung der Szenerie. Äußerst erwähnenswert sind zudem die Gestaltung des Bühnenbildes (Stephan Prattes) sowie das Sounddesign (Daniel Selinger), die Videoprojektionen (Sönke Feick) und die Lichtgestaltung (Raphael-Aaron Moss), die sich als gelungene Kombination erweisen. Bestehend aus mehreren, vielseitig einsetzbaren Holzbalken auf einer durchweg schrägen Bühne, ist die Hütte sehr praktikabel, fast schon abstrakt gestaltet worden. Hierbei werden verschiedene Ebenen angedeutet, so dass die Bühne Aufenthaltsraum und Dachboden zugleich darstellen kann. Projektionen im Hintergrund verdeutlichen beispielsweise den Skihang und das Bergpanorama und lassen somit ein authentisches Bild des Ganzen entstehen. Besonders eindrücklich ist hierbei das riesige Hakenkreuz, das bestehend aus den Holzbalken immer wieder hoch- und heruntergelassen wird und letztendlich allgegenwärtig über dem Geschehen schwebt.
„Scholl – Die Knospe der Weißen Rose“ endet mit dem Verlassen der Coburger Hütte und nicht mit der Verhaftung von Hans und Sophie. Dennoch hat ein Traum, eine Ahnung, ein Gedankengang Hans‘ Einblicke gegeben in das, was die Geschwister und alle weiteren Mitglieder der Widerstandsgruppe nur etwas mehr als ein Jahr später ereilen sollte: Verraten, verhaftet und verurteilt für die Freiheit, die sie gefordert haben. Es bleibt eine mit Flugblättern übersäte Bühne. Es bleibt der Ruf nach Freiheit.
Text: Katharina Karsunke