„Sherlock“ Foto: Stahlberg Stiftung
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Durchaus unterhaltsam: „Sherlock“ in Hasselburg

Seit einigen Jahren beschert das Kultur Gut Hasselburg in Altenkrempe sonnenhungrigen Pilgern eigene Musicalproduktionen. Aufgebläht zum Familienevent mit nachmittäglichem Rahmenprogramm sind sie quasi das konsequent zu Ende gedachte Mäzenatentum: Constantin Stahlberg sonnt sich als Gast- und Geldgeber nicht bloß im Abglanz seiner Künstler, er liefert die Kompositionen gleich selbst. Das ging bisher auf aber nicht immer gut – bei „Cyrano de Bergerac“ (2015) zumindest zerschellten professioneller Anspruch und ambitionierte Präsentation an der amateurhaften Vorlage. Zwei Jahre später versucht man sich an „Sherlock“ – und damit wohl vom gegenwärtigen Hype um den weltberühmten Detektiv zu profitieren. Zu verdanken ist er vor allem der BBC, die den Conan Doyle’schen Erzählungen durch moderne Lesart und junges Ermittler-Duo eine Frischzellenkur verpasste.

Ganz und gar nicht frisch sind Holmes und Watson zu Beginn des Musicals – und folgen entsprechend dem Werberuf in ein Seniorenheim. Hier werden sie schnell mit neuen Mysterien und alten Feinden konfrontiert; um die Gegenwart zu enträtseln, muss ein längst vergangener Fall rekapituliert werden. An sich eine spannende Ausgangssituation, um einerseits einen Theaterabend in Fahrt zu bringen, andererseits einem hinlänglich bekannten Stoff neue Aspekte abzugewinnen (wie wird ein alternder Sherlock mit der Tatsache umgehen, dass sein genialer Geist langsam verödet?). Und die jungen Profis auf der Bühne sind größtenteils willens, sie zu nutzen.

Valentino Karl ist ein, im wahrsten Sinne des Wortes, stimmiger Watson, verkraftet die Zeitsprünge am glaubhaftesten und überzeugt, bei einer Undercover-Untersuchung im Opernhaus, durch seine Wandlungsfähigkeit. Daniel Holtz reizt das komische Potenzial seiner Rolle voll aus, ohne seinen Kommissar Lestrade jemals für einen platten Gag der Lächerlichkeit preiszugeben – und erntet gerade darum Lachsalven und Sympathien beim Publikum. Bastian Kohn gibt den undurchsichtigen Opernimpresario Sir Timon Ray mit kalt-überlegenem Pokerface. Ausgerechnet seinem weiblichen Star (Hannah Moana Paul) flattert anfangs noch ein wenig die Stimme, und ausgerechnet ein streikendes Mikro zeigt, was eigentlich in ihr steckt: Auf den letzten Metern von „Der Tag wird kommen“ gibt Paul noch mal Vollgas. Und Sherlock selbst? Johannes Braun hat einen angenehm volltönenden Bassbariton, dem man in den Dialogszenen gern zuhört – und ebenso gern in den Gesangspassagen gelauscht hätte. Leider bleibt die Chance ungenutzt, sie seinem Stimmfach anzupassen.

Ein kluger Schachzug hingegen, Stefan Hiller zusätzlich zur Musikalischen Leitung mit den Arrangements zu betrauen. Ihm gelingt das Kunststück, das Material wie aus einem Guss und gleichzeitig facettenreich klingen zu lassen. So wartet beispielsweise „Die Wette gilt“, ein Solo für Kohn, gleich durch mehrere überraschende Wendungen auf und mündet in eine Disconummer. Außerdem wurde phasen- und dankenswerterweise auf die in Altenkrempe beliebte, durch das Fehlen motivisch-thematischer Arbeit indes auf Dauer strapaziöse durchkomponierte Form verzichtet. Das zeitigt zuweilen (be)merkenswerte Melodien und klassische Songstrukturen. Gemessen an früheren Produktionen ein qualitativer Quantensprung.

Leider kann das Buch von Gabi Blonski nicht mithalten. Die Story: bestenfalls vorhersehbar bis kurzerhand konstruiert. Dass Irene Adler und Prof. Moriarty ausgerechnet als Operndiva und -Intendant, als Personen des öffentlichen Lebens also, den Schutz der Anonymität suchen, dass man über weite Strecken das vermisst, wovon alle sprechen: einen konkreten Fall, dass zu viele Handlungsstränge ausgelegt und nicht zu Ende gesponnen werden, fällt unweigerlich auf. Ebenso, dass der Sinn des Gesungenen und treffende Metaphern wiederholt dem nervigen Drang zum Paarreim geopfert werden. Und dass ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen Zitat und Plagiat.

Wenn Passagen aus Arthur Conan Doyles Werk Verwendung finden („Das ist ein Drei-Pfeifen-Problem“), mag das ein erfreuliches Wiederhören für Kenner sein, sogar eine Verneigung vor dem Original. Wenn allerdings Phrasen der aktuellen BBC-Serie wortwörtlich („Gefühle sind ein chemischer Defekt, der auf der Verliererseite zu finden ist“) bzw. abgewandelt („Sie senken gerade den IQ des gesamten britischen Empire“) übernommen werden, ist das dreist, schlimmer: beschämend, schlicht: unwürdig einer Autorenschaft, die doch ob einer originären Schöpfung ernst genommen werden möchte.

Sicher gibt es überraschend gelungene Dialoge, zum Beispiel eine scheinbar belanglose Plauderei Sherlocks übers Wetter, die indes nur Lestrade bloßstellen soll. Wenn die Qualität des gesungenen Wortes, ergänzt durch stimmige Choreografien, nun noch zu der des gesprochenen aufschlösse, wäre Altenkrempe auf einem guten Weg. So allerdings verbleibt auch „Sherlock“, obwohl durchaus unterhaltsam, in der Grauzone zwischen Amateurtheater und „Kunze-Levay-Light“.

Text: Jan Hendrik Buchholz

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Jan Hendrik Buchholz ist studierter Theaterwissenschaftler, Germanist sowie Publizist und lässt in verschiedenen Ensembles und als Solokünstler seit 1992 von sich hören, vorzugsweise eigenes Material. Als Rezensent schrieb er für das Onlinemagazin thatsMusical und die Fachzeitschrift "musicals". Zweieinhalb Jahre lang war er zudem Dramaturg sowie Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Allee Theater Hamburg, anschließend Leiter der Kommunikationsabteilung der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen.