Lohnenswert: „Sherlock Holmes – Next Generation“ in Hamburg
Thomas Gehle, der als Gastgeber den Premierenabend des Musicals „Sherlock Holmes – Next Generation“ in seinem Haus eröffnet, ist sichtlich aufgeregt. Zumindest bleibt ihm die Spucke weg, als er davon erzählt, wie es zur Zusammenarbeit zwischen der Produktionsfirma Moving Act und dem First Stage Theater kam. Und gleich zweimal schleicht sich statt des „Next“ ein „New“ in den Stücknamen. Wer kann es ihm verdenken? Dieser Abend ist ein Wagnis, schon allein darum, weil er einen Traum Wirklichkeit werden lässt, der bald dreimal so alt ist wie die Bühne in der Thedestraße. Da schleicht sich schnell eine bestimmte Erwartungshaltung ein: Was lange währt, muss endlich gut werden.
Und wenn schon Gehles Nerven zum Zerreißen gespannt sind, wie blank müssen sie dann erst beim künstlerischen Leitungsteam liegen? Im Jahr 2011 unterbreitete Rudi Reschke (Autor, Regie) seinen Freunden und Kollegen Jo Quirin (Co-Autor) und Theodor Reichardt (Geschäftsführung) erstmals seine Vision eines neuen Musicals über den britischen Prototyp des Privatdetektivs. 2013 folgte die erste konzertante Lesung im Hamburger Grünspan. Seitdem wuchs die Vorfreude auf den ausproduzierten Stoff, bis die Hoffnung darauf zuletzt fast schwand. Umso größer ist nun natürlich die Freude. Und umso größer muss der Dank für Mut und Mühe an alle Beteiligten ausfallen. So viel zu den Vorschusslorbeeren – doch hat sich das Warten wirklich gelohnt?
Tatsächlich lassen die ersten Minuten leicht verwirrt und verstört zurück. Verwirrt, weil sich in den letzten Jahren über den Titeltausch hinaus (2013 firmierte die Produktion noch unter dem Namen „Sherlock Holmes 2.0“) so einiges getan hat, der Abend sein Premierenprädikat also wirklich verdient: Man sieht das Stück nicht nur mit anderen Augen, man sieht über weite Strecken ein anderes Stück. Hier treten nicht von Beginn an zwei Generationen von Holmes und Watson gegeneinander an, im Gegenteil erfährt der Untertitel des Musicals erst im letzten Handlungsdrittel seine – zugegeben ein wenig konstruiert, dafür wenig überraschend wirkende – Rechtfertigung. Watson Junior wurde gar gänzlich aus dem Buch gestrichen. Verstört ist man, weil der Musicalmotor anfangs noch stottert; der in Rückblende erzählte, finale Faustkampf zwischen Holmes und seinem Erzfeind Professor Moriarty am Reichenbachfall etwa gerät unfreiwillig komisch. Spätestens im „Golden Triangle“, in dem ein Hohelied aufs Opium gesungen wird, ist man aber auf dem Highway. Und von da an bleibt der Bleifuß verlässlich auf dem Gaspedal. Überhaupt, das merkt man nicht erst an dieser Stelle, geht es um die persönliche Entscheidung.
Man kann das Fehlen einer Setlist im Programmheft bedauern, man kann noch den kleinsten Rechtschreibfehler bemängeln – oder man kann sich an dessen liebevoller Gestaltung erfreuen und daran, wie viel Raum den Künstlern auf, vor und hinter der Bühne gelassen wird. Man kann sich am Bühnenaufbau (Dietmar Wolf, Rudi Reschke) reiben, der das Zentrum arg beschränkt. Oder man kann einsehen, dass die Projektionen (Michael Haake, Rudi Reschke) genau dieser Symmetrie bedürfen. Und dass der Diplomatenball, bei dem die bis dahin verhangene Band ins Zentrum der Lustbarkeiten und damit mitten in die Szene rückt, die gelungene Pointe dieses (vermeintlichen!) Witzes ist. Man kann spitzfindig jede Kleinigkeit aufzählen, die in der Hitze des Premierenfiebers danebengeht – wie etwa ein Giftanschlag auf Catherine, der sich im allgemeinen Durcheinander fast verspielt – oder man kann sich selbst davon packen lassen. Man sollte die Ansteckungsgefahr unbedingt auf sich nehmen, aus guten Gründen:
Grund Nummer eins ist die Musik. Wo selbst solvente Hamburger Privattheater ihre Hausproduktionen inzwischen mit Musik aus der Konserve versorgen, leistet man sich für „Sherlock Holmes – Next Generation“ eine sechsköpfige Band. Dieses halbe Dutzend Musiker löst ein, was an weit größeren Häusern von weit mächtigeren Unterhaltungsunternehmen oft nur versprochen wird: Es ersetzt ein komplettes Orchester. Das liegt natürlich zu einem beträchtlichen Teil an den umsichtigen Arrangements, die Bandbreite und Potenzial der übersichtlichen Besetzung aus Klavier, Gitarre, Bass, Schlagzeug, Percussion und Cello facettenreich ausreizen. Jeder Titel wird neu eingekleidet und mit überraschenden Accessoires versehen. Trotzdem wird die einheitliche Handschrift nie verleugnet. Ein Spiel mit den Stilen, in sich geschlossen. Wenn doch mal was als Einspielung kommt, dient es als Echo, öffnet neue Räume, geschieht jedenfalls nie aus der Not heraus. Und mischt sich hervorragend mit Spielfreude und Virtuosität der Musiker.
Philipp Polzin, neben Christian Heckelsmüller und Jeff Frohner einer von drei Musikalischen Leitern, hat am Premierenabend das Piano unter den Fingern und das Dirigat in den Händen. Beide Aufgaben meistert er mit Bravour. Und wird damit den wunderbaren Kompositionen Christian Heckelsmüllers vollumfänglich gerecht. Dessen großes Talent besteht darin, in den unterschiedlichsten Stilen zu Hause zu sein beziehungsweise sie zumindest meisterhaft spiegeln zu können. Er beherrscht groovigen Soul ebenso wie großes Drama und orientalische Klänge. Auf diese Weise gleiten seine Titel oft haarscharf am Klassiker-Klau vorbei, bleiben letztlich gleichwohl immer originär. Netter formuliert: Man denkt, man kennt’s. Letztlich ist allerdings alles, im besten Sinne des Wortes, unerhört. Ebenso gut versteht sich Heckelsmüller darauf, jedes individuelle Timbre in den passenden Song einzubetten – ein gefundenes Fressen für:
Grund Nummer zwei, den Cast. Und der trägt seinen Namen zurecht. Immerhin meint „to cast“ weit mehr als nur „besetzen“. Genauso gut lässt sich dieses Verb mit „formen“ und „gießen“ übersetzen. Alles passt: Hier wurde tatsächlich ein Ensemble geformt, das wie aus einem Guss agiert. Gleichzeitig ist jede Rolle voll besetzt, sprich: ausgefüllt, was individuelle Stärken zum Strahlen bringt. Merlin Fargel landet als John und mit „Zu dir“ um ein Haar den ersten Showstopper des Abends. Kein Wunder: Neben seinem beachtlichen Stimmumfang ruft er eine erstaunliche Farbpalette ab – vom brüchigen Falsett bis zum strahlenden Forte durch gefühlt vier Oktaven. Ethan Freeman hält als Senior-Holmes locker mit; nach dem vergleichsweise stimmschonenden „Kein Fall für Sherlock Holmes“, in den letzten Jahren bereits zum Insider-Hit avanciert, geht‘s in „Dein Bild“ dynamisch richtig zur Sache.
Ebenso kraftvoll brilliert Frank Logemann als Dr. Watson auf dem Krankenbett mit seiner fiebrigen Kriegstrauma-Schilderung. Flankiert wird er dabei von zwei Bettnachbarn, die ihn bzw. seine Worte in atemberaubender Synchronität spiegeln. Choreografin Marta Di Giulio schenkt uns hier, wie schon in der Opiumhöhle und andernorts, einen magischen Bühnenmoment. Den kann auch Iris Schumacher (Mrs. Hudson), doch berühren hier gerade die leisen Töne, die ehrliche, zugewandte Interpretation von „Atemzug“. In zurückgenommenen Passagen wie dieser – wie überhaupt in allen intimen Szenen aus der Baker Street 221b – funktioniert die Regie von Rudi Reschke am besten. Da wird ein über lange Zeit gewachsenes Vertrauensverhältnis auf zwei Ebenen spürbar: zwischen den handelnden Personen einerseits, andererseits zwischen den Kollegen hinter den Rollen. Stephanie Tschöppe macht als Mrs. Mason, stimmlich und stimmig, den Sack zu, testet noch mal alle zur Verfügung stehenden Resonanzräume. So hat jede Hauptrolle ihren großen Moment, ist sich indes nicht zu schade, im entscheidenden zurückzutreten, im Klangbild aufzugehen.
Das kommt selbstredend sämtlichen Chorpassagen zupass; in ihnen spiegelt sich die großartige Leistung der Musikalischen Leitung noch weit besser als in jeder Solonummer. Druckvoll, glasklar in Intonation und Verständlichkeit. Sicher: Sounddesign (Sven Baumelt) und Tontechnik haben daran unbestreitbaren Anteil. Obwohl alle Mitwirkenden gewinnen, gibt es eine erste Siegerin: Wie sich Alice Wittmer als Catherine innerhalb eines Songs aus dem Kokon der spröden Sufragette schält, um beinahe naiv-mädchenhaft im Gefühl der ersten, großen Liebe aufzugehen, ist ganz großes Kino. Oder eben: Theater.
Ein Urteil, das stellvertretend – mit den beschriebenen, marginalen Schönheitsfehlern – über der gesamten Produktion gefällt werden kann. Und gern stehenbleiben darf. Ja, das Warten hat sich gelohnt.
Text: Jan Hendrik Buchholz