„Six“ auf Tour (Foto: Dominik Lapp)
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Pop-Konzert mit historischem Flair: „Six“ auf Tournee

Mit ihrem Musical „Six“ haben Toby Marlow und Lucy Moss den sechs Frauen von Heinrich VIII. eine Stimme gegeben – und wie! Die UK-Tour, die schon in Dänemark, Deutschland sowie in den Niederlanden zu sehen war und jetzt wieder durch das Vereinigte Königreich zieht, ist eine energiegeladene und freche Neuschreibung der Geschichte, die das Publikum – so zumindest in der besuchten Vorstellung in Amsterdam – von den Sitzen reißt. Doch ist es wirklich ein Musical, oder erleben wir hier eine moderne Konzertshow?

In rund 75 Minuten entfaltet „Six“ das Leben der Ehefrauen Heinrichs VIII., doch nicht etwa chronologisch und mit klassischer Narration, sondern in einer modernen Battle-Show: Jede Ex-Frau tritt an, um in Form eines poppigen Solos ihre Geschichte und ihren Schmerz zu erzählen. Die Handlung? Kaum der Rede wert, denn hier geht es um die Musik, um die Interpretation und um die Botschaft, die jede der sechs Frauen für sich beansprucht: Unabhängigkeit, Selbstbewusstsein und – allen voran – die Freude, die eigene Geschichte erzählen zu können.

Die Bühne von Emma Bailey zeigt sich minimalistisch und effektiv, irgendwo zwischen Arena und Konzertbühne, mit gezielten Lichteffekten von Tim Deiling wie bei einem Pop-Konzert. Die Bühne bleibt unverändert, was die Konzertshow-Atmosphäre verstärkt, aber in puncto Erzählung für wenig Abwechslung sorgt. Das Set fügt sich damit gut ins Konzept, doch trägt es nicht zur Illusion eines Musicals bei – hier ist alles auf den kraftvollen Auftritt und die Musik fokussiert.

Besonders stark sind die Darbietungen der sechs Hauptdarstellerinnen. Billie Kerr als Catherine of Aragon setzt mit einer feurigen Präsenz den Maßstab und bringt das Publikum sofort in Stimmung. Yna Tresvalles verleiht der Anne Boleyn eine scharfzüngige, sarkastische Note, die den Saal zum Lachen bringt. Mit emotionaler Tiefe beeindruckt Liberty Stottor als Jane Seymour, während Hannah Victoria als Anna of Cleves eine eigenwillige, selbstbewusste Rolle singt. Lizzie Emery verleiht der oft verkannten Katherine Howard eine verletzliche, aber dennoch kraftvolle Stimme, und Eloise Lord als Catherine Parr bringt das Ensemble mit nachdenklichen Tönen zum Höhepunkt.

Der eigentliche Star der Show ist jedoch das Zusammenspiel der Musik, der Choreografie von Carrie-Anne Ingrouille und der prägnanten, modernen Kostüme von Gabriella Slade. Die Songs wirken eingängig, mit Anklängen an bekannte Popgrößen, und geben jeder Darstellerin die Chance, sich mit unterschiedlichen Musikstilen zu präsentieren, was die Vielseitigkeit der Frauenfiguren unterstreicht.

Trotz dieser exzellenten Darbietungen bleibt die Frage offen: Kann „Six“ wirklich als Musical gelten? Die Show erscheint eher wie ein Konzert und weniger wie eine traditionelle Inszenierung. Das Fehlen einer zusammenhängenden Handlung und die einheitliche Kulisse machen es schwer, sich auf die klassische Musicalsprache einzulassen. Der Abend wirkt wie eine Art spektakuläre Konzertshow mit biografischem Unterton.

Für Fans moderner Musicals und Popmusik ist „Six“ dennoch eine mitreißende Show, die historische Figuren in ein neues Licht rückt und mit viel Selbstironie einen frischen, frechen Umgang mit Geschichte wagt. Kein klassisches Musical, sondern ein mitreißendes Pop-Konzert mit historischem Flair. Wenn man das mag, wird man einen fantastischen Abend haben.

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".