Skurrile Karikatur: „Woyzeck“ in Osnabrück
Bei Lehrern ist es nach wie vor ein beliebter Unterrichtsstoff, das Dramenfragment „Woyzeck“ von Georg Büchner. Am Theater Osnabrück ist dieser Stoff, umgesetzt vom Schauspielensemble, nicht als Schauspiel, sondern als Musical zu sehen. Nach „The Black Rider“ und „Alice“ ist es das dritte Musical aus der Feder von Tom Waits (Musik) und seiner Ehefrau Kathleen Brennan (Songtexte) nach einem Konzept von Robert Wilson. Regisseurin Lilli-Hannah Hoepner erzählt diesen musikalischen „Woyzeck“ in Osnabrück mithilfe einer intensiven, wenngleich auch verstörenden Inszenierung.
Der Soldat Woyzeck (Oliver Meskendahl) hat ein uneheliches Kind mit Marie (Monika Vivell). Da das Geld knapp ist, verdient er sich zu seinem Sold etwas hinzu, indem er den Hauptmann rasiert und sich einem Doktor als Versuchsobjekt zur Verfügung stellt. Marie hat indes nur noch Augen für einen Tambourmajor (Martin Schwartengräber), woraufhin Woyzeck den Verstand verliert und Marie tötet.
Gewiss, das ist kein seichter Stoff. Lilli-Hannah Hoepners Inszenierung versprüht eine morbide Atmosphäre. Alles wirkt grau. Die verstörende Stimmung zieht sich vom spärlichen, industriell anmutenden Bühnenbild (Iris Kraft) über die schmuddeligen Kostüme (Eva Martin) bis hin zur Musik. Die sechsköpfige Band, bestehend aus Musikstudierenden der Hochschule Osnabrück unter der Leitung von Eberhard Fritsche, ist auf einem Bühnenwagen im hinteren Teil er Bühne platziert und wird dort immer wieder von links nach rechts und von rechts nach links gefahren, während die Musiker die schrägen Töne von Tom Waits spielen, die auf originelle Weise die Gefühlswelt Woyzecks, nein, die Atmosphäre der ganzen Inszenierung widerspiegeln.
Bei „Woyzeck“ geht es nicht um Schöngesang, und auch von den englischen Songtexten ist nicht viel zu verstehen. Der Fokus liegt ganz klar auf dem Schauspiel. Und, ja, das beherrschen die acht Schauspieler perfekt. Allen voran ist es Oliver Meskendahl in der Titelrolle, der die Bühne beherrscht, das Publikum packt. Seine Wandlung ist großartig: Erst treusorgender Vater, der seine Marie liebt, dann immer mehr in den Wahn abdriftendes Studienobjekt eines irren Doktors und letzten Endes ein unter tobsüchtigem Gebrüll durchgeknallter Mörder. Für diese Leistung erhält Meskendahl zu Recht den stärksten Applaus des Abends.
Als ausrufender Clown lockt Magdalena Helmig aus ihrem Spiegelkabinett heraus die Jahrmarktbesucher an und drückt der Inszenierung durch ihr gelungen trauriges Spiel und ihren Gesang („Misery is the River of the World“) einen weiteren düster-morbiden Stempel auf. Dagegen wirkt Marie (rollendeckend: Monika Vivell) eher erfrischend, wenn sie sich auf den Tambourmajor (herrlich schmierig: Martin Schwartengräber) einlässt.
Klasse, da einfach nur irre, ist auch der Doktor in der Darstellung von Patrick Berg, wenn er seine wahnwitzigen Spielchen an Woyzeck durchführt, bei denen Letzterer auch schon mal die Hose herunterlassen muss. Und auch Thomas Schneider gefällt als Hauptmann mit Bühnenpräsenz und seiner sonoren Sprech- und Singstimme.
Nach 90 Minuten ist alles vorbei: die schräg schallende Musik, der schief lallende Gesang, die morbide, dunkle, verstörende Stimmung. Erstickt in einer Mischung aus Beklommenheit und Bann. Was bleibt, sind eine tote Marie und ein blutverschmierter Woyzeck. Und Applaus. Lautstarker Applaus. Und eine erschöpft wirkende Schauspielerriege, die alles herausgeholt hat aus einer Inszenierung, die einer skurrilen Karikatur gleicht und ganz sicher nicht jedermanns Sache ist. Vor allem aber sollte man all seine Vorstellungen von Musicals über den Haufen werfen, bevor man diesen „Woyzeck“ sieht.
Text: Dominik Lapp