„Sweeney Todd“ (Foto: Dominik Lapp)
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Rundum stimmig: „Sweeney Todd“ in Osnabrück

„Ein Film für die Bühne“, so beschreibt Komponist Stephen Sondheim sein Thriller-Musical „Sweeney Todd“ nach dem gleichnamigen Schauspiel von Christopher Bond. Tatsächlich sitzt man vielfach gebannt, quasi nägelkauend auf der Stuhlkante, während die Musicalstudierenden der Hochschule Osnabrück in ihrer diesjährigen Abschlussproduktion (hier in der deutschen Fassung von Wilfried Steiner und Roman Hinze) die düstere Geschichte des Barbiers Benjamin Barker erzählen, der – vom Richter Turpin um Frau und Tochter betrogen – nach jahrelanger Verbannung als Sweeney Todd zurückkehrt und auf blutige Rache sinnt. Der Erfolg des Stücks hat sich offenbar herumgesprochen, denn der Veranstaltungssaal im Plektrum des Instituts für Musik ist bis auf den letzten Platz besetzt.

Kulisse und Ausstattung (Bühnenbild: Alexander Kubica) sind eher modern gehalten und nicht an das London des 19. Jahrhunderts als Handlungsort gebunden. Das Inventar der Pastetenbäckerei, bei der es sich auch um ein heutiges, etwas heruntergekommenes Straßencafé handeln könnte, besteht zunächst aus einem schwarz gekachelten Tresen, hinter dem ein Regal mit Küchenutensilien hängt, sowie einem schwarzen Tisch mit Stühlen. Eine einfache Kreidetafel weist auf die neuesten Angebote hin. Die Mauer ist aus rotem Backstein und der Fußboden im Stil der Fünfzigerjahre in schwarz-weißer Fliesenoptik und wirkt etwas dreckig, wie überhaupt der ganze Laden.

Nach der Pause, als die Geschäfte für Mrs. Lovett und Sweeney Todd zu florieren beginnen, kommt in der Bäckerei noch eine Bierzeltgarnitur für weitere Gäste hinzu, außerdem ein rotes Samtsofa und ein neues Harmonium (hier ein Digitalpiano) für Mrs. Lovetts Wohnung, während der grüne alte Ledersessel in Todds Barbershop einem neuen Friseurstuhl mit praktischer Kippfunktion weicht, dank dem seine Opfer gleich durch eine Klappe zur Weiterverarbeitung nach unten befördert werden können. Die Backstube im Keller wird durch einen halbtransparenten Lamellenvorhang verdeckt, der an einen Schlachthof erinnert, und seitlich von blutrotem Licht, vermutlich vom glühenden Backofen her, beleuchtet wird.

„Sweeney Todd“ (Foto: Dominik Lapp)

Mit dem aufgestockten Bühnenbild ändern sich auch die Kostüme der Protagonisten (Kostümbild: Sascha Wienhausen) im zweiten Akt. So trägt Mrs. Lovett statt des schlichten Kleids einen schwarzen Ledermantel, Lackstiefel, Sonnenbrille und dicke Klunker an Hals und Ohren und wirkt dadurch, auch passend zu ihrer Geschwätzigkeit, wie die Queen of Gangster-Rap. Tobys gelb-kariertes Hemd mit Hose ist einem gelben Anzug und einem glitzernden Rüschenhemd gewichen. Sweeney Todd trägt statt des Rollkragenpullovers immerhin Hemd und Jackett.

Angelehnt an Horrorfilme, ist der Dreh- und Angelpunkt des Musicals die Musik von Stephen Sondheim, die das Drama und seine düstere Atmosphäre, die sicher auch die inneren Seelenzustände Sweeney Todds widerspiegelt, überhaupt erst entstehen lässt. Dem fast 30-köpfigen Sinfonieorchester des Instituts für Musik unter der Leitung von Christopher Wasmuth gelingt dies, vor allem auch durch differenzierte Dynamik, sehr gut. Bedrohlich anschwellende Streicher kulminieren in hohe, spitze Bläsertöne. Schon im Intro erklingt zum Überfall dreier Ganoven auf Mrs. Lovett schaurige Orgelmusik.

„Sweeney Todd“ (Foto: Dominik Lapp)

Imitierte oder eingespielte Geräusche tragen außerdem dazu bei, dass einem buchstäblich die Haare zu Berge stehen. So wird Todds dreimaliges Klopfen als Zeichen für Mrs. Lovett, dass ein neues Opfer unten in der Backstube angelangt ist, durch Paukenschläge im Orchester wiederholt. Gut gelöst ist das Problem, dass die Bühne nur zwei Ebenen hat: Sobald jemand im Keller ist, wird seine Stimme von der Technik mit Hall belegt. Das Quietschen des Fleischwolfs erinnert an die Duschvorhangszene aus Hitchcocks „Psycho“ und bei jedem Durchschneiden einer weiteren Kehle erklingt ein Geräusch wie das einer Kreissäge.

Viele der grausamen Szenen sind jedoch mit scheinbar harmloser Musik unterlegt und wirken dadurch bizarr. Wenn Sweeney Todd über „seinen Freund“, das Rasiermesser, singt, klingt dies fast wie ein zärtliches Liebeslied. Kurz bevor er den Richter töten will, übernimmt er gut gelaunt dessen Pfeifen. Ehe Büttel Bamford droht, Mrs. Lovetts dunklem Treiben auf die Schliche zu kommen, hält er sie mit banaler Salonmusik auf und nötigt sie sogar dazu, das scheinbar endlose „Wenn’s einmal schlägt von der Glocke“ mitzusingen, während ihr „das Wasser schon bis zum Halse steht“. Als Toby verstört aus der Backstube kommt, singt er das Kinderlied „Backe, backe Kuchen“, aus dem ein „Messer, Messer schneide“ wird, ehe er damit auf Todd losgeht. Selbst Mrs. Lovetts schwärmerisches „An der See“, wenn sie sich die Zukunft an Sweeneys Seite ausmalt, wirkt seltsam grotesk mit tragischem Unterton. Das schwarzhumorige „Nehmt Prälat“, welches Todds albtraumhaftes „Epiphanie“ als eine Art Comic Relief ablöst, kommt gar als Walzer im 3/4-Takt daher. Doch die vermeintliche Seligkeit nimmt immer schnell ein jähes Ende und das Lachen bleibt einem im Halse stecken.

„Sweeney Todd“ (Foto: Dominik Lapp)

Ein ähnliches Gefühl hat man in der Eröffnungssequenz des zweiten Akts: Wie die Gäste der Bäckerei bei „Schmeckt das gut!“ übertrieben gierig nach immer mehr Pasteten verlangen, ist schon makaber, wenn man um deren ungewöhnliche Fleischfüllung weiß. Dem komplett in Schwarz gekleideten Ensemble (Salyma Chatty, Laetitia Hippe, Amani El Sadek, Pauline Weschta, Nuno Dehmel, Tobias Gerisch, Jonas Helmers, Daniel Nothnagel, Strato Stavridis, Tim Stolberg) kommt nicht nur in dieser Szene eine wichtige Rolle zu: Es agiert im gesamten Stück als griechischer Chor und kommentiert das Bühnengeschehen. Im Prolog umreißt es Sweeney Todds Vorgeschichte und warnt im Epilog vor Rachsucht. Eine originelle Idee: Der Text des Briefes, den er an Richter Turpin schreibt, wird abwechselnd von den Ensemblemitgliedern eingesungen.

Auch choreografisch beeindruckend (Choreografie: Michael Schmieder) und quasi pantomimisch erzählt das Ensemble die tragische Geschichte von Todds Frau Lucy Barker (in der Rückblende dargestellt von Laetita Hippe) auf Turpins Maskenball. Gut inszeniert (Regie: Sascha Wienhausen) ist die Überleitung von „Überall Feuer!“, wo die Bürgerinnen und Bürger Londons nachts mit Taschenlampen die Gassen nach dem vermissten Büttel durchsuchen, hin zur nächsten Szene, in der Mrs. Lovett und Sweeney Todd – ebenfalls mit Taschenlampen – im dunklen Keller Toby aufzuspüren versuchen.

„Sweeney Todd“ (Foto: Dominik Lapp)

Leander Bertholdt überzeugt in der Hauptrolle als Barbier Sweeney Todd (ehemals Benjamin Barker) auf ganzer Linie. Blass geschminkt und mit schwarzen Augenringen ist er besessen von Rachegedanken, die ihn krank gemacht haben. Was ihm widerfahren ist, hat ihn verbittert und hart werden lassen und seine Sicht auf die Welt für immer getrübt. Allem und jedem, auch Mrs. Lovetts unermüdlichen Avancen gegenüber, empfindet er nur Gleichgültigkeit und Hass, was sich in seiner starren Mimik und oft monotonen Sprache widerspiegelt („Sie alle verdienen es, zu sterben.“). Mit dunkler, sanfter Stimme singt er nur beim Gedanken an seine verloren geglaubte Tochter Johanna, während er dem nächsten Opfer dabei teilnahmslos die Kehle durchschneidet. Mit irrem Lachen und verstörtem Blick läuft er zu Hochformen auf, wenn er bei „Epiphanie“ am Ende des ersten Akts furchteinflößend das Messer schwingt.

Die Pastetenbäckerin Mrs. Nellie Lovett (Jamie-Lee Uzoh) wirkt zunächst eher harmlos wie die geschwätzige Schnapsdrossel von nebenan. Unvermittelt wechselt sie in ihrer ersten Nummer „Londons schlimmste Pasteten“ von einem Thema zum anderen und hat dabei in kurzer Zeit viel Text zu bewältigen. Verzweifelt versucht sie (und sie kann einem dabei fast leidtun), Sweeney Todds Liebe zu gewinnen, doch gelangt nicht zu ihm durch, selbst wenn sie ihn mit ihrer spannendsten Erzählstimme zu umgarnen versucht. Dass Mrs. Lovett gerissen und nahezu skrupellos ist (außer wenn es um Toby geht, für den sie ein Herz hat), zeigt sich erst zum Finale vor der Pause. Zwischen Geldgier und Liebestollheit gerät sie, auch um Sweeney zu gefallen, immer mehr in die Fänge des Bösen.

„Sweeney Todd“ (Foto: Dominik Lapp)

Dominik Räk in der Rolle des Matrosen Anthony Hope – erkennbar an seinem schwarz-weiß gestreiften Marineshirt und der meerblauen Hose – ist der Sympathieträger im Stück. Mit freundlicher Ausstrahlung und wohlklingender, warmer Stimme sieht er die Welt im Gegensatz zu Todd noch positiv und ist voller Hoffnung (wie sein Name schon verheißt). „Johanna“ singt er, vom Orchester begleitet, so schön, dass man Gänsehaut bekommt.

Annemarie Purkert wirkt als Sweeney Todds Tochter Johanna Barker gar nicht so schwach und hilflos, sondern eher wie ein unerfahrener „Backfisch“ und noch sehr kindlich, wenn sie die Puppe aus dem Wagen nimmt. Die Gitterstäbe um ihr Zimmer herum symbolisieren, dass sie wie ein Vögelchen im Käfig eingesperrt ist. In „Grünfink und Nachtigall“ besingt sie ihr Schicksal, während zu ihren eher klassischen Gesangspassagen hohe Flötentöne wie Vogelzwitschern aus dem Orchester klingen.

„Sweeney Todd“ (Foto: Dominik Lapp)

Tobias „Toby“ Ragg erinnert bei Richard Fuchs – der zwar nicht als kleiner Junge, aber wegen seiner jugendlichen Ausstrahlung zumindest als Teenager durchgeht – ein wenig an Pinocchio, der etwas naiv, aber gleichzeitig neugierig ist, was ihn später in Gefahr bringt. Als armer Straßenjunge und schlecht behandelter Gehilfe Pirellis hat er schon viel Schlimmes erlebt, sich aber trotzdem einen Sinn für das Gute bewahrt. „Nichts kann Euch geschehen“ singt er für Mrs. Lovett mit jungenhafter Stimme und anrührender Loyalität.

Richter Turpin stiehlt Benjamin Barker alias Sweeney Todd durch eine List nicht nur seine Frau, sondern später auch seine Tochter. Mit grauem Anzug, schwarzen Stiefeln und streng gegelten Haaren stellt Yannic Blauert ihn als aalglatten, egoistischen und kaltherzigen Businessman mit militärischem Touch dar. Angeklagten vor Gericht gegenüber ist er gnadenlos und spielt eiskalt seine Macht aus. Zwar geißelt er sich wegen seiner obszönen Gedanken an Johanna, als er verkündet, sein Mündel heiraten zu wollen, geht ein entsetztes Rauen durchs Publikum.

„Sweeney Todd“ (Foto: Dominik Lapp)

Sein Handlanger Büttel Bamford, dargestellt von Pascal Schmid, ist kaum besser. Nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht, führt er gewissenlos Turpins Befehle aus. Mit schwarzem Anzug und Sonnenbrille tritt er wie ein schmieriger Mafioso auf, der sich nonchalant jeden Staub von der Schulter wischt – eine Art Bodyguard, der mit Genuss die Drecksarbeit für den Richter erledigt und sich damit auch bei ihm einzuschmeicheln versucht.

Stefan Schößwendter wirkt als vermeintlich italienischer Barbier Signor Adolfo Pirelli, der mit gespieltem Akzent und rollendem R spricht, eher etwas gemütlich und behäbig, ein Lebemann, dem im Grunde alles egal ist – außer wenn es um Geld geht. In Nebel gehüllt, tritt er als der große Zauberer auf. Ein buntes Reklameschild „Pirelli’s Pop-up-Store soon“ im Comicstil weist auf sein künftiges Angebot hin. Zu seinem Kostüm aus Nadelstreifenhose mit Lurexfäden, paillettenbesetztem Jackett und Zylinder fehlt ihm allerdings ein wenig die Extravaganz und Bühnenpräsenz, weshalb er als Ire Danny O’Higgins (seine eigentliche Identität) glaubhafter überkommt.

„Sweeney Todd“ (Foto: Dominik Lapp)

Leonie Dietrich zuletzt holt das Beste aus ihrer eher kleinen, aber signifikanten Rolle als Bettlerin, die sich später als Lucy Barker entpuppt, heraus. Mit leicht zittriger, kopflastiger Stimme schleicht sie barfuß mit zerzausten Haaren und zerlumpter Kleidung über die Bühne und wirkt dadurch etwas unheimlich, wie ein Geist. Sie versteckt sich oft im Hintergrund, beobachtet aber alles ganz genau und ahnt das Böse. Weil sie aufgrund ihrer erlittenen Traumata und einer Arsenvergiftung „nicht ganz richtig im Kopf“ ist, glaubt ihr jedoch niemand, was ihr am Ende zum Verhängnis wird.

Die Wahl dieses Stücks als Abschlussproduktion ist aufgrund der abschreckenden Handlung vielleicht ein Risiko – oder eben gerade eine Herausforderung. Die Musicalstudierenden der Hochschule Osnabrück haben diese jedenfalls bravourös gemeistert und mit „Sweeney Todd“ eine rundum stimmige Inszenierung auf die Bühne gebracht. Standing Ovations trotz des schwierigen Themas und positiv überraschte Stimmen aus dem Publikum („Mal ganz was anderes, nicht so das klassische Musical“) geben dem Erfolg der Produktion recht. Die Überlegung eines Besuchers, „Ich würd’ schon noch mal gehen“, können sicher auch andere sehr gut nachvollziehen.

Text: Yvonne Drescher

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Yvonne Drescher ist studierte Musik-, Sprach- und Literaturwissenschaftlerin sowie Kulturmanagerin. Während ihres Studiums hat sie als freie Mitarbeiterin im Kulturbereich für Magazine und Zeitungen geschrieben und anschließend in der PR-Abteilung eines Tourneeveranstalters gearbeitet. Als Laiendarstellerin, Musikerin oder Regieassistentin war sie selbst schon an zahlreichen Musiktheaterproduktionen beteiligt.