Kurzweilig und unterhaltsam: „The Prom“ in Kloster Oesede
Auf der Elternratsversammlung der James Madison High School in der konservativen Kleinstadt Edgewater, Indiana ist gerade eine hitzige Diskussion entbrannt, als zur Überraschung aller plötzlich die berühmte Broadway-Darstellerin Dee Dee Allen mit einer lärmenden Horde Demonstrierender hereinwirbelt. Im schwarz-glitzernden Overall schwingt sie ihr rotes Cape wie ein Torero zu spanisch-mexikanischen Rhythmen, Kastagnetten und Mariachi-Trompeten, bevor sich ihr Auftritt zu einer spektakulären Revuenummer entwickelt, in der von rasanten Hebefiguren über Nebelmaschinen bis hin zur ausladenden Showtreppe wirklich alles geboten wird. Was für eine Show! Dabei betont Dee Dee in ihrem Song immer wieder: „Es geht nicht um mich“ – was ihr natürlich keiner abnimmt. Eigentlich sollte bei alledem ja auch die Schülerin Emma Nolan im Mittelpunkt des Interesses stehen. Doch ist das wirklich so?
„The Prom“ (Der Abschlussball) von Bob Martin, Chad Beguelin (Buch und Texte, deutsche Übersetzung: Nico Rabenald) und Matthew Sklar (Musik) feierte 2018 am Broadway Premiere, wurde 2019 als „Outstanding Musical“ mit dem Drama Desk Award ausgezeichnet, 2020 mit namhaften Schauspielerinnen und Schauspielern wie Meryl Streep, Nicole Kidman und James Corden in den Hauptrollen verfilmt und ist jetzt auf der Waldbühne Kloster Oesede zu sehen.
Die Story behandelt ein aktuelles Thema, die Gleichbehandlung queerer Menschen, und basiert auf einem realen Fall aus dem Jahr 2010, an dem viele namhafte Prominente beteiligt waren. Im Musical sind es Dee Dee Allen und ihr Bühnenpartner Barry Glickman, die gerade mit einem Stück am Broadway gefloppt sind, und nun nach einem geeigneten Fall suchen, um sich als Staraktivisten mithilfe ihres PR-Managers Sheldon Saperstein bessere Publicity zu verschaffen. Ihnen schließen sich der wenig erfolgreiche Juilliard-Absolvent Trent Oliver, der für seinen Broterwerb als Kellner jobben muss, sowie die bisher immer nur fürs Ensemble engagierte Angie Dickinson an. Über Twitter finden sie in der lesbischen Schülerin Emma Nolan, der von der Schulbehörde verboten wurde, mit ihrer Freundin Alyssa am Abschlussball ihrer High School teilzunehmen, ein passendes Opfer von Ungerechtigkeit, dem sie sich annehmen können.
Der Waldbühne Kloster Oesede gelingt mit „The Prom“ unter der Regie von Max Meßler eine kurzweilige und unterhaltsame Inszenierung, die auf allen Ebenen ein für eine Amateurproduktion beachtlich hohes Niveau aufweist. Rasante Ensemblenummern wechseln mit bewegenden Solosongs ab. Die Choreografien von Brady Harrison passen gut zu den jeweiligen Szenen. Während die Premierengäste in glamourösen Kleidern und Sektglas in der Hand bei „Leben ändern“ eine Kickline im Broadway-Stil tanzen, tauchen in der Nummer „Du warst plötzlich bei mir“, wenn die Schülerinnen und Schüler sich eine Begleitung für den Abschlussball suchen, auch Hip-Hop-Elemente auf. Sämtliche Rollen sind treffend besetzt und die von einer Gruppe Mitwirkender entworfenen Kostüme perfekt auf die jeweiligen Charaktere zugeschnitten. Trotz einfacher Mittel entsteht auf der Waldbühne Kloster Oesede eine Vielzahl beeindruckender Szenen, die in Erinnerung bleiben.
Eher schlicht und funktional ist das Bühnenbild von Tom Grasshof (der auch schon Produktionen für das Theater Osnabrück ausgestattet hat): Vor einer blauen Wand ist eine pinkfarbene Gerüstkonstruktion mit verschiebbaren, metallicfarbenen Quadraten aufgebaut, hinter denen sich die Schulspinde befinden. Der Schriftzug „The Prom“ prangt in großen, angestrahlten Lettern über der Bühne. Zwei verschiebbare Treppenelemente dienen als Auditorium bei der Elternratsversammlung, als Tribüne in der Arena oder als Sitzecke im Restaurant. Verschiedene Räume sind nur durch einzelne Möbelstücke angedeutet, die auch mehrfach verwendet werden. Emmas Bett mit leuchtendem Regenbogen, Traumfänger und Gitarrenposter an der Wand taucht zum Beispiel später als Barrys Hotelbett mit orange-brauner Siebzigerjahre-Tapete und Seerosengemälde dahinter wieder auf.
In einem eigenen Bandstand rechts neben der Bühne sind die neun Musiker unter der Leitung von Christian Tobias Müller untergebracht. Mit Drive und punktgenauen Kicks spielen sich die studierten Instrumentalisten gekonnt durch die überwiegend poplastige Partitur mit vereinzelten Anklängen an andere Musikstile wie Latin, Jazz, Disco und R’n’B. Gesang und Bandsound sind dabei angenehm ausgeglichen. Neben der großen Ballnummer „Heut‘ Nacht gehört nur dir“ am Ende vom ersten Akt bleibt vor allem „Tanz‘ mit mir“ im Ohr, das zunächst als Duett von Emma und Alyssa erklingt und später im Finale als fulminanter Abschluss wieder aufgegriffen wird.
Was die Besetzung angeht, kämpft Emma Nolan entschlossen, trotz aller Rückschläge und obwohl sie von anderen gemoppt wird, für ihre Sache und lässt sich nicht unterkriegen. Das zeigt sich auch in ihrem individuellen, unangepassten Kleidungsstil mit Latzhose, Streifenpulli, Brille und Strickmütze. Mit ihrem Song „Hol’ Luft, Emma“ spricht sie sich selbst Mut zu. Annika Wesselkamp beeindruckt nicht nur gesanglich, sondern auch durch ihre Mimik, sodass man ihre Emotionen von verletzt über enttäuscht bis wütend gut nachfühlen kann.
Ihre Freundin Alyssa hingegen traut sich nicht, zu sich selbst zu stehen und lässt sich durch ihre dominante Mutter verunsichern, der sie versucht alles recht zu machen. Mit kariertem Rock, weißen Rüschensöckchen, Lackschuhen und Zopf mit weißer Schleife verkörpert sie auch optisch das brave Schulmädchen. Eva Dreier überzeugt in ihrem Part schauspielerisch und gesanglich mit jugendlicher Natürlichkeit und mädchenhafter Stimme.
Für ihre Mutter, Mrs. Greene, mit Beehive-Frisur und Kleid im Sechzigerjahre-Stil scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Bei ihr hat man den Eindruck, dass sie sich als Vorsitzende der Eltern-Lehrer-Vereinigung auf bornierte und starrsinnige Art selbst profilieren möchte, und das auf Kosten ihrer Tochter, die sie mit ihren unerfüllbaren Ansprüchen unter Druck setzt und ihr keinen Raum für ihre eigene Entwicklung lässt – glaubhaft gespielt von Julia Lichter.
Niklas Gausmann ist als sympathischer und unvoreingenommener Schulleiter Tom Hawkins der Einzige, der Emma ernsthaft unterstützt und sich für ihre Sache einsetzt. Mit seinen abgewetzten Schuhen und dem immer gleichen Anzug legt er nicht viel Wert auf sein Äußeres, weil ihm anderes wichtiger ist. In seinem Song „Wir schauen auf dich“ singt er nachvollziehbar über seine Theaterbegeisterung und seine Bewunderung für Dee Dee. Entsprechend groß ist seine Enttäuschung, als er erfährt, dass sie nur wegen der Publicity nach Edgewater gekommen ist.
Ein Scherz am Rande: Die Rolle des PR-Managers Sheldon Saperstein ist mit Andreas Gervelmeyer besetzt, der vielen auch als Reporter und Moderator beim Radiosender NDR 1 bekannt sein dürfte. Immer geschäftig am Handy, jammert er permanent über seinen Job, ist nur auf den Werbeerfolg bedacht und sieht in allem ein PR-Problem.
Ann-Kathrin Fischers Angie Dickinson ist wenig selbstbewusst und wird oft übersehen. Zur Beruhigung nimmt sie ab und zu heimlich einen Schluck aus ihrem Flachmann, den sie immer in der Tasche dabeihat. In „Zazz“ singt sie mit Leidenschaft darüber, dass man selten eine „Chance hat, aus dem Ensemble ins Rampenlicht hinauszutreten“ und vergleicht ihr Leben mit einer Theaterbühne. Musikalisch, tänzerisch und was die Kostüme angeht, erinnert der Song an Bob Fosse und „All that Jazz“ aus dem Musical „Chicago“, in dem Angie am liebsten die Rolle der Roxie Hart übernehmen würde und sich auch privat so kleidet.
Trent Oliver, gespielt von Tim Schlattmann, hat als Möchtegern-Rocker mit seiner gelben Lederjacke und den weißen Lack-Cowboystiefel wenig Sinn für Stil. Da er ständig auf sein Studium an der Juilliard verweist und nur Oberteile mit dem Schriftzug der renommierten Schule für darstellende Künste in New York trägt, leidet er offensichtlich an Minderwertigkeitskomplexen. Immer darauf aus, eine Show abzuziehen, übertreibt es gerne und wirkt dadurch meistens eher peinlich. So bemüht er sich in mit seiner Performance in der Arena – unterstützt von einem Backgroundchor in weißen Kutten mit Blockflöten und Blumenkränzen im Haar – vergeblich, einem patriotischen Publikum mit „Stars and Stripes“-Accessoires die Botschaft „Komm‘, akzeptiere dein Gegenüber“ näherzubringen.
Barry Glickman ist der bessere Entertainer der beiden, was Torsten Hartwich wunderbar authentisch darstellt. Wenn er sich mit „Barry geht zum Ball“ an seinen eigenen Abschlussball von damals erinnert, klingt der Song wie „Copacabana“ von Barry Manilow im Stil der Disco-Ära. Dazu tanzt das Ensemble mit gekreppten Haaren und Vokuhila-Frisuren in bonbonfarbenen, glänzenden Satinanzügen und -kleidern aus den Achtzigerjahren. Als Barry Emma für den Ball einkleiden darf, ist er ganz in seinem Element und erinnert mit Designerhandtasche, pelzbesetztem Jackett, Sonnenbrille und Segelschuhen an den „Shopping-Queen“-Moderator Guido Maria Kretschmer.
Dee Dee Allen hat die eigentliche Hauptrolle im Stück und im Leo-Look mit Pelzstola, Goldbehang und rothaariger Marilyn-Monroe-Frisur die glänzendsten Auftritte. Lea Schulte-Hillen stellt sie stimmlich und schauspielerisch absolut souverän als selbstverliebte und egoistische Diva dar, die aber mit Nonchalance und Augenaufschlag auch einen gewissen Charme verströmt und vor allem den Schulleiter damit um ihren Finger wickelt. Mit dem sozialen Engagement tut sie sich trotzdem von allen am schwersten und zückt am Ende nur widerwillig ihre Kreditkarte, als es darum geht, Emmas Ball zu finanzieren.
Das Ensemble, angeführt von den beiden Schülerpaaren Kaylee (Stella Ruhe) und Nick (Arne Thiede), Shelby (Luzie Vorkefeld) und Kevin (Luka Haermeyer), sprüht vor Energie und Spielfreude. Die Choreografien wirken erstaunlich synchron und rhythmisch genau, sodass man auch hier kaum merkt, dass es sich um ein Laientheatergruppe handelt.
Einziger Kritikpunkt: Der eigentliche Fall um Emma wird über lange Strecken zur Nebensache und die wichtige Botschaft für mehr Toleranz und Gleichberechtigung geht in dem ganzen Spektakel etwas unter. Im Vordergrund stehen vielmehr die erfolglosen Bemühungen der vier Broadway-Akteurinnen und -Akteure, sich sozial zu engagieren. Zwar versuchen sie zu helfen, allerdings auf ihre Art, wie sie es eben aus ihrer Theaterwelt heraus nur können. Angie rät Emma: „Wenn die Hände zittern, mach’ daraus doch Jazzhands“. Als Dee Dee Toms Enttäuschung bemerkt, glaubt sie, ihn wieder nur mit einer weiteren Shownummer („Die Lady lernt weiter“) gnädig stimmen zu können, und wenn Trent sich als mehrfach gekreuzigter „J.C.“ bemüht, den christlichen geprägten Jugendlichen im konservativen Provinzstädtchen mit seinem Song „Lieb’ den Nächsten“ den moralischen Spiegel vorzuhalten, wirkt das irgendwie unzeitgemäß und wenig überzeugend. Der hohe Unterhaltungswert der Show ergibt sich vor allem aus den überzeichneten Charakteren und der Persiflage ihrer Eitelkeiten. Man hat allerdings den Eindruck, sie nutzen den Anlass nur, um mit ihrer eigenen Vergangenheit abzuschließen.
Erst am Ende erlangt Emma doch noch die verdiente Aufmerksamkeit, wenn sie die Sache selbst in die Hand nimmt und ihr Schicksal in ihrem selbstgeschriebenen Song „Weil nur mein Herz weiß, was es will“, zu dem sie sich auf der akustischen Gitarre begleitet, mit gleichsam Betroffenen im Internet teilt – der stimmungsvollste Moment in der Show, wenn die Handydisplays der Zugeschalteten mit dem Regenbogen über Emmas Bett in verschieden bunten Farben aufleuchten.
Text: Yvonne Drescher