Modernes Pop-Märchen mit Partygarantie: „& Julia“ in Hamburg
Ein Klassiker wie „Romeo & Julia“ neu erzählt – gab es das nicht erst? Ein weiteres Jukebox-Musical mit seichter Story und Radio-Pophits – muss das sein? Nicht ganz. Bereits am Londoner Westend und New Yorker Broadway ein Megaerfolg, feiert „& Julia“ (Buch: David West Read, deutsche Übersetzung: Jana Mischke und Heiko Wohlgemuth) unter der Regie von Grace Taylor (nach der Originalregie von Luke Sheppard) jetzt in Hamburg umjubelte Deutschlandpremiere. Das Besondere an diesem Stück: Während die weltberühmte Liebesgeschichte dramatisch endet, wird hier Julias Geschichte neu erzählt und fortgeführt. All das verbindet sich mit einer Musik, die komplett aus der Feder des schwedischen Songwriters und Produzenten Max Martin stammt und nachweislich eine ganze Generation prägte und zum Tanzen brachte. Fakt ist: 16. Jahrhundert und Historie treffen auf Popkultur, Female Empowerment und Diversity. Das verspricht eine rasante Story und Unmengen von Glitzer, Glamour und Spaß. Eine ganz große Party.
Der historische Stoff endet an der Stelle, als Julia sich verzweifelt das Leben nimmt. Genau hier setzt das Musical an, wenn nicht gar schon früher: William Shakespeare und seine Frau Anne Hathaway bilden den charmanten, explosiven Rahmen der Geschichte und fungieren somit als Erzähler des Stücks. Als Anne einen Abend kinderfrei hat und das Schauspiel ihres Mannes in London besucht, ist für sie eindeutig: das Ende muss umgeschrieben werden. Denn was wäre passiert, wenn Julia nicht gestorben wäre, sondern ihr Leben und ihr Schicksal mit all seinen Facetten selbst in die Hand genommen hätte? Warum das ganze Leben auslöschen, nur weil eine Beziehung – auch noch die Erste – nicht von Erfolg gekrönt ist? Dank Anne beginnt für Julia die Reise ihres Lebens – und der lange Weg zu Selbstakzeptanz und Selbstliebe.
Starke und selbstbewusste Frauenrollen durchziehen das Stück wie ein roter Faden und sind ihren männlichen Mitstreitern haushoch überlegen. Allen voran Protagonistin Julia, die mit Chiara Fuhrmann phänomenal besetzt ist. Äußerst sympathisch und liebevoll lenkt sie mit Julias Geschichte das Stück: ihr Weg vom großen Gefühlschaos, als sie erfährt, dass sie nicht Romeos einzige Geliebte war, bis hin zur starken, emanzipierten Frau, die das Leben eigenständig angeht. Fuhrmann brilliert mit jeder Phase ihres Körpers, strotzt nur so vor Power und zeichnet zugleich einen authentischen, sensiblen Charakter, der die beste Freundin oder die Nachbarin von nebenan sein könnte. Eine Frau, mit der man sich identifizieren kann, die auch mal verletzlich im Leben strauchelt, auf der Suche nach der Liebe, dem Leben und am wichtigsten: nach sich selbst. Nummern wie „Confident“ oder „Since you‘ve been gone“ schwappen beinahe über vor Bühnenpräsenz und Female Empowerment. Eins ist klar: Britney Spears oder Rihanna hätten es nicht besser machen können.
Musicalstar Willemijn Verkaik hat die große Ehre, Anne Hathaway, Shakespeares Ehefrau, zu verkörpern. Eine historische Vorlage, über die nicht allzu viel bekannt ist, außer dass sie – auch der Zeit geschuldet – im Schatten ihres berühmten Ehemanns stand und für die gemeinsamen Kinder verantwortlich war. In „& Julia“ bekommt Hathaway eine völlig neue Rolle zugesprochen: Die Geschicke werden in ihre Hände gelegt, und sie erhält die einmalige Gelegenheit, die Geschichte neu zu schreiben und zu lenken. Verkaik als durchsetzungsfähige, direkte, quirlige und zugleich sehr einfühlsame Anne Hathaway zu erleben, ist äußerst unterhaltsam. Nach Rollen wie Mrs Danvers in „Rebecca“ oder Elsa in „Die Eiskönigin“ hat sie jetzt die Möglichkeit, voll aus ihrer komödiantischen Bandbreite zu schöpfen. Ein lockerer Spruch auf den Lippen, der Versuch, ein wenig jugendlich zu wirken und Julias „Bestie“ zu sein, indem sie sich als „April“ selbst in die Geschichte schreibt oder ihre tänzerischen Fähigkeiten: Willemijn Verkaiks Protagonistin ist äußerst sympathisch und hat vom ersten Moment das Publikum auf ihrer Seite. Aber auch sie zeigt sich verletzlich und angreifbar, als sie im Zwist mit Ehemann Shakespeare ihren wahren Gefühlen freien Lauf lässt. Denn bei allem Female Empowerment: Anne erkennt sich in Julia selbst wieder – und ihr eigenes Leben, das nicht die Chance hatte, anders zu laufen und ihr die Möglichkeit auf Selbstbestimmung bieten konnte. Hält sich die Niederländerin doch gesanglich während des Stückes ein wenig mehr im Hintergrund, ist Celine Dions Powersong „That‘s the Way it is“ der berührendste und zugleich kraftvollste Höhepunkt in Verkaiks Darstellung, der das Publikum zu Szenenapplaus, Jubel und Standing Ovations führt und mit großer Sicherheit ein weiterer Meilenstein in der Karriere der Ausnahmekünstlerin sein wird. Eine Bühnenpräsenz, die ihresgleichen sucht.
William Shakespeare an ihrer Seite ist ein charismatischer, leidenschaftlicher und selbst ernannter Popstar, der plötzlich widerwillig und sehr ungern zurückstecken muss, als seine Frau den Federkiel übernimmt. Gelungene Freeze-Szenen lassen Shakespeare und Hathaway aus der Geschichte purzeln und wieder zu Erzählern werden, wenn sie sich hitzig über die jeweilige Änderung der Story streiten. Andreas Bongard gelingt die herrliche Darstellung eines Mannes mit gekränktem Ego, der einiges als historische Vorlage bietet und doch zugleich komplett neu erfunden wird. Dass andere seinen Job übernehmen, mag dem großen Schriftsteller so gar nicht gefallen! Gesanglich steht Bongard leider ein wenig im Hintergrund, sind doch Shakespeares Gesangsparts eher gering. Umso amüsanter sind seine kleinen Nebenrollen in der Handlung selbst und der schrille Auftritt der „Bois Band“ zu „Everybody“. Hier gelingt es ihm, gemeinsam mit seinen Bandkollegen, echtes Konzertfeeling entstehen zu lassen.
Und Romeo? Held oder Verlierer? Eines ist sicher: Sein Auftritt am Ende des ersten Aktes, als er mit „It‘s my Life“ von der Decke herabgelassen wird, zählt mit zu den Höhepunkten des Abends. Schließlich gelingt es ihm, mit einer einzigen Szene die komplette Storyline durcheinanderzuwirbeln. Ein spannender Cliffhanger vor der Pause, der nicht nur bei Anne und Julia für Entsetzen sorgt, wohingegen Shakespeare triumphiert, als er seinen Protagonisten zurück im Rennen sieht. Für Raphael Groß mag es gewiss herausfordernd sein, Energie und Kraft bis zu diesem einen Moment zu bündeln und dann von null auf hundert zu performen, doch gelingt ihm dies punktgenau und mit einer faszinierenden Leichtigkeit.
Auch im Zusammenspiel mit Chiara Fuhrmann beweist der junge Musicaldarsteller das richtige Einfühlungsvermögen. Beide harmonieren äußerst gut miteinander und schaffen den sympathischen Spagat zweier Liebender, die irgendwie nicht miteinander, aber auch nicht ohneeinander sein können. Am Ende heiratet Julia Romeo doch – aber nicht, ohne sich selbst voranzustellen. Denn warum muss es immer „Romeo & Julia“ heißen?
Zu guter Letzt dürfen Julias Weggefährten nicht unerwähnt bleiben: Ihr „Bestie“ May, eine non-binäre Person, die sich mit „I’m not a Girl, not yet a Woman“ noch nicht so recht einzuordnen weiß und verständlicherweise im Strudel der Gesellschaft und des Lebens strauchelt. Umso wichtiger, im Jahre 2024 auch diese Thematiken anzusprechen und aufzuzeigen, was mit verdientem Szenenapplaus, Zustimmung und Jubel belohnt wird. Mit Bram Tahamata ist die Rolle von May optimal besetzt – eine Figur voller Mut und Entschlossenheit in einer verletzlichen und zugleich sehr starken, tiefgründigen Darstellung, umschlossen mit einer wunderbar warmen, gefühlvollen Stimme. Jacqueline Braun als Julias Amme Angelique und Carlo de Vries als Lance begeistern mit einer dankbaren Komik, ohne ihre Rollen ins Lächerliche zu ziehen, und haben im gemeinsamen Techtelmechtel die Sympathien auf ihrer Seite. Überhaupt ist der Plot der Amme äußerst unterhaltsam, und dankbarerweise läuft ihre Geschichte nicht nur am Rande mit, sondern erhält den Platz, den sie verdient.
Verantwortlich für Julias Gefühlschaos ist nicht zuletzt Francois oder auch Frankie, die Zufallsbekanntschaft in Paris und zugleich ungewollt Leidensgenosse mit einem ähnlichen Schicksal. Dass es Francois allerdings unverhofft in die Arme Mays treibt, hätte er wahrscheinlich selbst am wenigsten gedacht. Wie seine Kolleginnen und Kollegen überzeugt auch Oliver Edward schauspielerisch und gesanglich auf ganzer Linie und gibt der vielleicht etwas unauffälligeren Rolle eine große Wirkung.
Es ist ein gelungener Schachzug, Historie und 16. Jahrhundert mit den poppigen Millennial-Jahren zu verbinden, was auch Accessoires wie ein Walkman oder Gameboy zeigen. Der Einsatz von Projektionen (Andrzej Goulding) und liebevoll arrangierten Requisiten sorgen für eine märchenhafte, funkelnde Atmosphäre, Bühne (Soutra Gilmour) und Kostüm (Paloma Young) unterstreichen das urbane Pop-Märchen. Dies gelingt besonders, als Julia und Romeo zu „One more Try“ auf einer Schaukel in den Sternenhimmel fahren – mit der richtigen Prise Kitsch einfach nur schön anzusehen, könnte diese Szene geradewegs einem Disney-Musical entstammen.
Getragen werden die Protagonistinnen und Protagonisten von einem fantastischen, ausdrucksstarken Ensemble. Da es sich bei „& Julia“ um ein Pop-Musical mit zahlreichen rasanten Tanznummern handelt, ist es umso wichtiger, ein Ensemble zu haben, das diese Energie auf den Punkt genau liefern kann. Und eines ist sicher: Der Broadway ist mit der Choreografie von Jennifer Weber in Hamburg angekommen! Verstärkt durch ein äußerst ausgefeiltes, präzises Lichtdesign (Howard Hudson), einen satten, kräftigen Sound (Gareth Owen) und den Einsatz der Hubpodien, die Julias Popstar-Momente einmal mehr unterstreicht, fällt es im Publikum wahrlich schwer, sitzen zu bleiben und die Show nicht mit einem Konzert zu verwechseln. Dies wird sogar ausdrücklich gewünscht: bestimmte Stellen fordern das Publikum zum Mittanzen und Mitfeiern auf.
All das ist nur möglich dank der fantastischen Band unter der Leitung von Philipp Gras, die sich leider im Bühnenarrangement versteckt hält, aber umso deutlicher zu hören ist und Hits wie „…Baby one more Time“, „I kissed a Girl“ oder „As long as you love me“ sensationell und mit viel Power und Schwung vertont. Für all die Songs zeigt sich Max Martin verantwortlich und sind – bis auf „One more try“, das extra für „& Julia“ komponiert wurde – alles Nummer-eins-Hits der letzten 30 Jahre. Ihm verdanken Bands wie die Backstreet Boys und Bon Jovi oder Künstlerinnen wie Britney Spears, Katy Perry und Demi Lovato weltweite Erfolge. Somit wird auch die Zielgruppe des Musicals deutlich: Eine ganze Generation der 1990er und 2000er Jahre, die mit diesen Songs aufwuchs und ihre ersten Clubnächte zum Vibe dieser Musik erlebte. Bei „& Julia“ ist eines klar: Der Band wird die unersetzbare Hauptrolle zugesprochen!
Die spritzigen, quirligen, zum Teil sehr jugendlichen Dialoge – ins Deutsche übersetzt von Jana Mischke und Heiko Wohlgemuth – reihen sich gelungen in die zum Großteil auf Englisch gehaltenen Songs ein. Dankbarerweise hat man es bei den Originalversionen belassen, lediglich die ersten Takte und Worte der musikalischen Nummern wurden ins Deutsche übertragen. Dies verwirrt am Anfang zunächst und erweist sich auch im Übergang nicht immer als glücklich und gelungen. Ein geschmeidiger, fließender und greifbarer Wechsel wird versucht zu gewährleisten, glückt aber nicht an jeder Stelle. Dennoch: Eine der wenigen Freiheiten, die die deutsche Inszenierung mit sich bringt, ist sie doch ansonsten sehr nah am Original.
Fakt ist: Schon lange hat Jukebox nicht mehr so viel Spaß gemacht. Mit dem Musical „& Julia“ ist Stage Entertainment in Hamburg ein großer Coup gelungen, der zum Erfolg werden könnte. Wenn auch mit den Millennials eine bestimmte Zielgruppe angesprochen wird, ist es ein Stück, das vielen gefallen düfte: Es sprüht nur so vor Lebensfreude, Energie, guter Laune und Beats, die zum Mitwippen einladen. Auch fühlt es sich keinesfalls langatmig an, wenn auch im zweiten Akt die Story eine ganze Weile braucht, bis sie nach Irrungen und Wirrungen zum großen Finale findet.
Am Ende heißt es dann nicht „Romeo & Julia“, sondern „& Julia“, wo Julia als Siegerin aus der Geschichte hervorgeht. Sie hat zu sich selbst gefunden, sich selbst lieben gelernt und vor allem, sich und ihre Bedürfnisse vorangestellt. Denn ist nicht manchmal ein Neubeginn viel wichtiger als ein Happyend? So bekommt „I want it that Way“ eine völlig neue Bedeutung.
Text: Katharina Karsunke