Spannende Lesart: „Der Vampyr“ in Hannover
Die neueste Opernproduktion an der Staatsoper Hannover beginnt mit einer beeindruckenden Szene. Als sich der rote Vorhang öffnet, gibt dieser den Blick frei auf die Ruine der Alten Synagoge, davor ein riesiger Trümmerhaufen, auf dem sich Untote und allerhand Kreaturen aus der Unterwelt tummeln. Es ist das fantastische Eröffnungsbild zu Heinrich Marschners – völlig zu Unrecht – selten gespielter Oper „Der Vampyr“, inszeniert vom gefeierten Regie-Überflieger Ersan Mondtag.
Im Fokus der Inszenierung steht der Vampirismus als Phänomen des Außenseitertums. Die Figur des Lord Ruthwen wird zum Vampir erklärt, um ihn zu dämonisieren und damit ausstoßen und verfolgen zu können. Weil sich das, was Ersand Mondtag als Regisseur erdacht hat, auch im Bühnenbild widerspiegeln soll, hat er es direkt selbst entworfen.
Im Bild der zerstörten Synagoge visualisiert er das Außenseitertum, denn Juden wurden von den Nationalsozialisten als Kinderblut saugende Vampire dargestellt. Dadurch wurden sie dämonisiert, um sie zu entrechten und zu verfolgen. Später wechselt der Regisseur dann zu einer Kulisse des Ölvampirismus, um das Bild des Blutsaugers für die Ressourcenausbeutung der Erde durch gierige Machtmenschen zu verwenden, womit er einen aktuellen politischen Bezug herstellt.
Ersan Mondtags konzeptionelle Erweiterung der Marschner-Oper (Libretto: Wilhelm August Wohlbrück, Dialogfassung: Till Briegleb) macht aber auch vor den Figuren nicht Halt. So lässt er Ahasver, den Ewigen Juden, auftauchen, der dazu verdammt ist, alle Leidensmomente der jüdischen Geschichte immer wieder zu durchleben. Als eine Figur, die den Aspekt des Außenseiter- und Minderheitenvampirismus verkörpert, kann Ahasver direkt mit den anderen Figuren der Oper interagieren.
Eine vom Premierenpublikum eher kontrovers aufgenommene neue Figur ist der britische Literat Lord Byron, den Mondtag als kommentierenden Elton-John-Verschnitt mit rosa Anzug und lila Haaren auftreten lässt. Zusammen mit Ahasver und der Vampyrmeisterin Astarte bewegt sich Byron flexibel zwischen der Handlung und einer Kommentarebene, was sehr gut funktioniert.
In das Vampirthema richtig eintauchen lassen uns neben dem ausladenden Bühnenbild auch die nicht weniger aufwändigen Kostüme von Josa Marx. Während sie die Kreaturen der Unterwelt als Untote, Dämonen oder Trolle teilweise mit vier Augen oder großen Flügeln, mit einem Beil im Kopf oder einem Dolch in der Schulter zeigt, hüllt sie die Mitwirkenden später in bester Gothic-Manier wie beim Finale des Musicals „Tanz der Vampire“ in schwarzen Lack.
Michael Kupfer-Radecky ist als Lord Ruthwen, der Vampyr, durchweg überzeugend. Mit glitzernden Ohrsteckern, silbernem Gewand, bleichem Gesicht und Narbe auf dem Glatzkopf kann er optisch bestehen, bringt aber auch gesanglich mit seinem volltönenden Bariton eine ganz hervorragende Leistung. Die Dame, um die Lord Ruthwen buhlt, ist Malwina, der Mercedes Arcuri ein starkes Profil verleiht. In ihren herrlich bunten Kostümen, die allesamt das Shell-Logo tragen und damit auf ihren väterlichen Ölmagnaten anspielen, ist sie ein regelrechter Farbtupfer in der Inszenierung. Genauso strahlend wie ihre Kostüme, ist ihr bis zu den Spitzentönen klarer Sopran.
Eine etwas undankbare Rolle hat Norman Reinhardt als Edgar Aubrey, der als Malwinas Verlobter zwischen deren Vater und Lord Ruthwen steht. Doch mit seiner tenoralen Strahlkraft kann Reinhardt zwischen beiden bestehen. Eine exzellente Leistung, die vom Publikum mit viel Applaus belohnt wird, erbringt ferner Shavleg Armasi als Sir Humphrey. Darstellerisch balanciert Armasi großartig zwischen dem treusorgenden Vater und dem tyrannischen Ölmagnaten, gesanglich begeistert er mit seinem profunden Bass.
Die Überraschung des Abends gelingt der hinreißenden Nikki Treurniet in der relativ kleinen Rolle der Emmy. Bevor diese dem Blutsauger zum Opfer fällt, darf Treurniet mit ihrem klangschönen Sopran eine wunderbare Ballade singen. Herrlich ist die überspitzte Charakterzeichnung des Lord Byron durch Benny Claessens, der mit seinem affektierten Gehabe mehrfach für Lacher, aber auch für verärgerte Reaktionen („Scheiße!“) im Publikum sorgt. Oana Solomon verleiht der Vampyrmeisterin Astarte ein erhabenes Auftreten und liefert einen Wow-Effekt, wenn sie über die Bühne fliegt. Rollendeckend agiert weiterhin Jonas Grundner-Culemann als Ahasver.
Gut zu tun hat überdies der fantastische Chor, den Lorenzo Da Rio wieder einmal ausgezeichnet einstudiert hat. In ihren schaurigen Kostümen sind die Chorsängerinnen und -sänger zudem mitverantwortlich für die Zeichnung eines überwältigenden Unterwelt-Eröffnungsbildes, das durch Sascha Zauner ins rechte Licht gerückt wird.
Musikalisch steht „Der Vampyr“ weniger in der Tradition der italienischen Oper, als vielmehr in der des Singspiels. Im Orchestergraben dirigiert Generalmusikdirektor Stephan Zilias das Niedersächsische Staatsorchester mit Leidenschaft und äußerster Präzision durch die abwechslungsreiche Partitur. Dass Heinrich Marschner sein Werk als „große romantische Oper“ bezeichnete, ist in der wundervollen Musik unüberhörbar. So bewegen sich die Musikerinnen und Musiker zwischen traumwandlerischer Romantik und markerschütternden Schauermelodien, wo sich stimmstarke Choräle mit liedhaften Stücken abwechseln.
Zum Schluss gibt es vom Premierenpublikum viel Applaus für die Mitwirkenden, aber auch vereinzelte Buh-Rufe für den Regisseur. „Der Vampyr“ ist in der Inszenierung von Ersan Mondtag sicherlich kontrovers zu diskutieren, insgesamt aber ein prächtiges Musiktheaterstück mit spannender Lesart, das sich niemand entgehen lassen sollte.
Text: Dominik Lapp