Mitreißend: „West Side Story“ auf Tour
Es sind die weltberühmten Klassiker und die ganz großen Gefühle, die von den Bühnen rund um den Globus nicht mehr wegzudenken sind. Der Klassiker, bei dem man sich allerdings auch fragt, ob er nicht langsam ausreichend genug gespielt wurde. Oder ob er heute, nach fast 70 Jahren, überhaupt noch zeitgemäß ist und mit sämtlichen neuen, aktuellen Produktionen mithalten kann, die nur so vor modernster Technik und Einfallsreichtum strotzen. Wer allerdings das Glück hat, das Musical „West Side Story“ in der Inszenierung von Joey McKneely zu sehen, der als einer der wenigen Regisseure weltweit die Rechte besitzt, die Originalchoreografie von Jerome Robbins auf die Bühne zu bringen, dem wird das glatte Gegenteil bewiesen. Altmodisch und langweilig? Im Gegenteil. Brandaktuell und hochmodern!
„West Side Story“, aus der Feder von Arthur Laurents, mit der Musik von Leonard Bernstein und den weltberühmten Texten von Stephen Sondheim, ist nicht ohne Grund nach so vielen Jahrzehnten immer noch ein absoluter Dauerbrenner. Und Joey McKneely gelingt Unterhaltung auf ganz hohem Niveau, die nicht einen Hauch von Langeweile mit sich bringt. Er kombiniert gekonnt Moderne und Geschichte miteinander und schafft es, auch im 21. Jahrhundert für dieses, doch etwas in die Jahre gekommene Stück, zu begeistern.
Der Inhalt ist aktueller denn je, denn nicht nur auf der Upper West Side im New York der 1950er Jahre treffen die unterschiedlichsten Menschen in den buntesten Gruppierungen mit den verschiedensten Hintergründen aufeinander. Da ist es nur selbstverständlich, dass diese Zusammensetzung hochexplosiv ist. Hier stehen sich die amerikanischen Jets, Söhne und Töchter polnischer Migranten, mit den puerto-ricanischen Sharks als zwei Einwanderergruppen gegenüber – eine brodelnde Mischung, die kurz vor dem Explodieren ist. Es ist ein Kampf um Macht und Anerkennung, vielleicht auch um Wertschätzung und Wahrnehmung, was bereits das Opening mehr als deutlich unter Beweis stellt, als beide Banden aufeinandertreffen und ihren Standpunkt demonstrieren.
Der erste Akt beginnt ohne Ouvertüre, und bereits von Beginn an wird hier dem Tanz die bedeutende erzählerische Funktion zugeschrieben. Man katapultiert den Zuschauer kopfüber ins Geschehen, so dass dieser sich sofort im Spannungsverhältnis zwischen Jets und Sharks wiederfindet. Jerome Robbins war als Choreograf und Regisseur ein Meister seinesgleichen, denn für ihn galt stets: Der Tanz ist keine nette Untermalung zur restlichen Handlung und Musik, sondern steht als heimlicher Protagonist hochkarätig im Mittelpunkt. Er macht dramaturgisch den Hauptpart aus, unterstreicht hier den rivalisierenden Charakter der beiden Gruppen und wird im Kampf teilweise zur Akrobatik. Es sind die Jets, die coolen Jungs, die vor jugendlicher Energie nur so sprühen und die Sharks, die Haie, die starken Latinos, die sich so gar nichts gefallen lassen. Ein Zeichen von früherer Unterdrückung, Wiederaufstehen, Kampfgeist, Mut und Durchsetzungsvermögen.
Somit wird die Geschichte minutenlang weitererzählt, ohne dass es Dialoge bedarf. Leonard Bernsteins Musik unterstreicht die jugendliche Energie auf sensationelle Art durch aufbrausende Rhythmen und gehetzte, immer lauter und schneller werdende, beinahe schon harte und aggressive Schläge. Zudem zeichnet ein rauer und unruhiger Unterton die nervöse Grundstimmung des Bandenkrieges aus. Das Ganze wechselt sich ab, unterstützt durch wunderbare Streicherklänge, mit den Melodien der großen Liebeslieder „Tonight“ und „Maria“ oder auch „Somewhere“, in denen alle von einer friedlichen Zukunft träumen. Ein Traum, der sich nicht so schnell erfüllen wird.
Das Orchester, bestehend aus 21 Musikern unter der Leitung von Donald Chan, erfüllt den Zuschauerraum mit einem wahrhaftig vollen Klang und schafft vor allem eines: den „ursprünglich amerikanischen Sound“ von „West Side Story“ hervorzuheben und nach so vielen Jahrzehnten wieder aufleben zu lassen. Somit wird die klassische Romeo-und-Julia-Geschichte zu einem mitreißenden, atemberaubenden Geschehen, das den Zahn der Zeit trifft.
Das Ensemble tanzt sich beinahe mühelos durch die Inszenierung und besticht durch einen grandiosen Ausdruck, sowie eine beeindruckende Körpersprache und Bühnenpräsenz. Und dann passiert es, dass Maria, Schwester von Sharks-Anführer Bernardo, in einer ihrer ersten Nächte in den USA auf Tony, den früheren Boss der Jets, trifft und sich beide Hals über Kopf verlieben, so dass sie bereits in ihrer ersten Nacht unter dem New Yorker Sternenhimmel von der ganz großen Liebe träumen.
Todd Jacobsson und Sophie Salvesani sind eine exzellente Besetzung für die beiden jugendlichen Protagonisten. Jung, fast noch zerbrechlich, aber getrieben von ihren Charakterstärken begeistern sie mit erstaunlich schönen Stimmen. Jacobsson singt sein Solo „Maria“ ganz wunderbar mit einer vollen, samtweichen Stimme, wohingegen Salvesani mit ihm in „Tonight“ durch ihren klassischen, strahlenden Gesang mehr als perfekt harmoniert. Auch äußerlich passen die beiden gut zueinander; gewinnen sie doch schnell die Sympathien für sich, weil sie nicht so recht zu einer der beiden Gruppierungen gehören wollen. Sie sind vermutlich schon einen ganzen Schritt weiter als ihre Freunde, denen leider bis zum Schluss verwehrt bleibt, aufeinander zuzugehen.
Das jugendliche Alter durchzieht die Darstellerriege der „West Side Story“ wie ein rotes Band – bewusst wurde hier darauf geachtet, Darsteller zu engagieren, die dem Teenager-Alter noch sehr nah sind. Denn nur so gelingt die Authentizität der Geschichte und man darf verwundert sein über die hohe Professionalität der jungen Menschen, die zum Teil mit dieser Produktion ihr professionelles Theaterdebüt geben. Hier und da mag es noch etwas an Reife fehlen, und gerade Noah Mullins als Riff muss in seiner Rolle als Jets-Anführer noch etwas wachsen – doch das Potential ist vorhanden. So bestechen alle durch exzellentes Können in Tanz, Gesang und Schauspiel.
Definitiv erwähnenswert ist zudem Chloé Zuel in ihrer Rolle als Anita. Sie beeindruckt durch eine hervorragende Bühnenpräsenz und unglaublich viel Charakter. Anita weiß, wofür sie steht und wofür sie kämpft, zeigt sich aber dennoch nach dem Tod ihres Bruders Bernardo als mindestens genauso verletzlich. „America“ ist einer der Höhepunkte des Abends, und zurecht galt ihr am Ende der größte Applaus.
Die aktuelle Tourproduktion beweist: Die „West Side Story“ ist noch stets aktuell, originell und keineswegs veraltet. Dennoch bedarf es einer mitreißenden Inszenierung – und die ist Joey McKneely gelungen. Es wird dabei klar: „West Side Story“ ist eine tragische Liebesgeschichte vor einem dramatischen Hintergrund, der das Publikum zum Nachdenken anregt, als der Vorhang fällt.
Text: Katharina Karsunke