„Wiener Blut“ in Rostock (Foto: Thomas Ulrich)
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Macht Lust auf mehr: „Wiener Blut“ in Rostock

Wiener Walzer und Lebensgefühl am Ostseestrand? Das Volkstheater Rostock beweist im Rahmen seines Sommertheaters in der Halle 207: Ja, das geht, das geht sehr gut und macht Laune. Geertje Boedens Inszenierung der Operette „Wiener Blut“ (Musik: Johann Strauss Sohn, Libretto: Victor Léon und Leo Stein) ist frisch, frech, fröhlich und wartet mit vielen sehr guten Ideen auf.

So sitzt das ausgezeichnete große Orchester (Norddeutsche Philharmonie Rostock, Musikalische Leitung: Eduardo Browne Salinas) nicht im Orchestergraben, sondern verwöhnt das Ohr voluminös, sehr rund und im besten Sinne symphonisch mit Blick zum Publikum auf ganzer Breite im Hintergrund der Bühne, weshalb mit Verstärkung gesungen wird.

Das Bühnenbild von Sarah Antonia Rung, zwischen Orchester und Darstellern platziert, besteht ganz klassisch aus rollbaren Kulissen aus bemaltem Sperrholz, teils durchbrochen, die Fahrgeschäfte aus dem Prater andeuten, jedoch, mit der Rückseite nach vorne, auch zum Boudoir werden können. Links ein Gerüst mit zwei Gondeln, die das Riesenrad darstellen und auch bespielt werden.

Die frische Farbwahl mit Orange- und Grüntönen lässt keinen Verdacht auf Altbackenheit aufkommen und setzt sich auch in den historisierend bis zeitlos-modern gehaltenen Kostümen (ebenfalls von Sarah Antonia Rung) fort, sogar die Schminke der Darsteller hat Highlights in Grün und Orange. Abgerundet wird das Bild durch den gewaltigen Oktopus, der ähnlich tatsächlich im Prater zu finden ist und zeltartig die Bühne nach oben abschließt, dabei den Blick freigibt auf die wunderschöne Konstruktion des Hallendachs, das blau ausgeleuchtet wie ein Abendhimmel wirkt. Insgesamt ist die Beleuchtung (Ronald Marr) sehr einfühlsam und angenehm.

Die Requisiten (Julia Krämer) sind eine gelungene Mischung aus zeittypischen Gegenständen wie zum Beispiel Handschuhe, Fächer, Hüte, Schreibutensilien und nicht mehr ganz modernem Equipment, wie einer Pocketkamera oder einem Urahn des heutigen Tablets. Auch lustig überzeichnete Gegenstände wie ein riesiger, überdimensionierter Bleistift, der später kurz als Keule verwendet wird, kommen vor. 

Die Besetzung ist exzellent und bis in die kleinste Rolle passend. Adam Sánchez überzeugt als arroganter, selbstverliebter, lebenslustiger Schwerenöter Graf Balduin Zedlau mit kräftigem, strahlendem Tenor, humorvollem Spiel und sehr viel Bühnenpräsenz. Seine Figur zeigt den ganzen Abend über das erwünschte „Wiener Blut“ (das er gleich zu Beginn in einer riesigen Spritze verabreicht bekommt) – man kann nicht verstehen, dass seine Frau dies einfach nicht sehen will und erst zum Schluss erkennt!

Gräfin Gabriele Zedlau wird als intelligente, erstaunlich emanzipierte Frau wunderbar mit warmem, vollem lyrischen Sopran und ausgezeichnetem, nuancenreichem Spiel von Natalija Cantrak verkörpert, die ihrer Figur insbesondere im einfühlsamen Zusammenspiel mit den anderen Charakteren viele interessante Facetten verleiht.

Was wäre eine Operette ohne den Diener? Den durchtriebenen, manchmal begriffsstutzigen Josef bringt Tobias Zepernick superb mit weichem Tenor und bewegter Mimik hinreißend komisch und verschmitzt, manchmal ratlos und immer voller Ideen abwechslungsreich und sympathisch auf die Bühne. Seine Liebste, die Probiermamsell Pepi, neueste Entdeckung des Grafen, singt Katharina Kühn mit angenehmem Sopran und charakterisiert sie frech, lustig, bodenständig, aber auch nachdenklich und verträumt. Man muss sie einfach gern haben und versteht das Interesse der Herren!

Herrlich pointiert, nuanciert und facettenreich spielt Ethan Freeman den Minister von Reuß-Greiz-Schleiz, Fürst von Ypsheim-Gindelbach, glaubhaft auch in absurdesten Situationen, mit fantastischem komödiantischem Talent (das er schon bei „Frankenstein Junior“ zeigen konnte) und wunderbar modulierender, wandelbarer Stimme. Ein großartiger Einfall der Regie lässt ihn mit Georg Kreislers „Was wäre Wien ohne Wiener“ vom zweiten in den dritten Akt überleiten, er bietet diese gesellschaftskritische, bitterböse Satire absolut meisterlich dar. Chapeau!

Mit heller, klarer Stimme, Witz und viel Verve singt und spielt Julia Ebert die spritzige, liebenswerte, anmutige und anspruchsvolle Geliebte des Grafen, die Tänzerin Franziska Cagliari, die sich zum Schluss mit der Gräfin verbündet. Ihren Vater, den sinistren Schausteller und Möchtegern-Schwiegervater Kagler, der seine Teufelshörner unter einem Zylinder verbirgt und immer mal wieder neckisch entblößt, bringt Jussi Juola mit reichem, sattem Bassbariton, ausdrucksvollem Spiel und dämonischer Mimik wunderbar bedrohlich auf die Bühne – wo er auftaucht, gehört ihm sofort die Aufmerksamkeit. Er zieht die Fäden im bösen Spiel. Begleitet wird er meist von seinen Dämonen, getanzt und gespielt von Almog Adler, Narikazu Aoki, Martina Martín und Flurin Stocker, die mit graziler Anmut und sehr schönen gehörnten Masken schaurig das Böse personifizieren.

Der Musikalische Leiter, Eduardo Browne Salinas, tritt als Graf Bitowsky auf. Er macht das wunderbar, indem er sich einfach vom Orchester wegdreht, die szenische Handlung betritt, wobei man sieht, er ist ebenfalls geschminkt, und seine Zeilen spricht, was sehr natürlich wirkt und erneut, ebenso wie die gekonnte Platzierung, die sonst bestehende Grenze zwischen Orchester und Bühne durchbricht. Ein sehr reizvoller Effekt und guter Einfall!

Der Opernchor (Einstudierung: Csaba Grünfelder) sorgt für die nötige Fülle, hat beim Ball eine große Szene und bereichert insgesamt das musikalische Erleben. Die sehr schöne, einfallsreiche Choreografie von Annika Dickel bringt Schwung auf die Bühne, wirkt flüssig und passt jederzeit gut zum Geschehen. Operettentypisch spielen sich Handlungsstränge mitunter parallel auf der Bühne ab, das Publikum kann wählen, wem man die meiste Aufmerksamkeit schenkt.

Warum man im zweiten Akt im Hintergrund der Bühne eine schwarze Messe feiert, in deren Verlauf Kagler, der gehörnte Fürst der Finsternis, reichlich blaues Blut aus einem Kelch darbietet, erschließt sich nicht ganz, stört aber auch nicht, vielleicht sollte einfach auch der vampirische Gedanke an Wiener Blut seinen Ausdruck finden. Insgesamt jedoch sind die Regieeinfälle äußerst gelungen und ist die Inszenierung sehr witzig, frisch und fröhlich, enthält dabei aber, vor allem durch das Kreisler-Lied, auch eine gute Portion Gesellschaftskritik. Wunderbare Unterhaltung mit Tiefgang!

Text: Hildegard Wiecker

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Hildegard Wiecker schreibt leidenschaftlich gern und hat Erfahrung als Rezensentin bei thatsMusical gesammelt, bevor sie zu kulturfeder.de kam.