Foto: Morris Mac Matzen / Stage Entertainment
  by

Kein neues Musical-Wunder: „Das Wunder von Bern“ in Hamburg

„Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooor!“ Legendär ist der Kommentar von Herbert Zimmermann aus dem Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1954. Das neueste Hamburger Musical, eine Adaption des Sönke-Wortmann-Films „Das Wunder von Bern“ verpufft dagegen und mag auf der Bühne des Theaters an der Elbe einfach nicht so recht zünden – trotz einiger guter Ansätze.

Aus dem Kino kennt man es ja bereits, dass schon mal die besten Szenen eines Films im Trailer verarbeitet werden und später, wenn man den Film in seiner Gänze sieht, nicht mehr viel nachkommt. Ähnlich ist es beim Musical „Das Wunder von Bern“. Während der 15-minütige Ausschnitt, der im Januar 2014 bei der Pressekonferenz den anwesenden Medienvertretern präsentiert wurde, sowie die drei im Vorfeld produzierten Musikvideos sehr vielversprechend waren und hohe Erwartungen schürten, konnten ebendiese letztendlich nicht erfüllt werden.

Dabei ist die Vorlage geradezu prädestiniert für eine Bühnenumsetzung. Geht es doch nicht nur um die gewonnene Fußball-Weltmeisterschaft (Deutschland war wieder wer!), sondern vor allem um das Schicksal einer Familie im Nachkriegs-Deutschland. Doch die Story hat bei der Adaption für die Bühne viel an Emotionen eingebüßt. So ist es vor allem das Buch von Gil Mehmert, das sich viel zu sehr an unwichtigen Details aufhält.

Das Stück wird künstlich aufgebauscht und unnötig in die Länge gezogen, nur um noch ein paar Kalauer für das außer Takt mitklatschende Publikum zu bieten. Die Fahrt der Nationalmannschaft ins Trainingslager, bei der „Hoch auf dem gelben Wagen“ angestimmt wird, gehört genauso gestrichen wie die letzte Nummer des ersten Akts („Seien Sie nicht so deutsch“), das mit singender Putzfrau (immerhin großartig gespielt von Jogi Kaiser) und billigem Luftschlangen-Vorhang an Peinlichkeit kaum zu übertreffen ist. Das Publikum nach zähen 80 Minuten mit solch einer billigen Nummer in die Pause zu entlassen, grenzt an eine Frechheit.

Um die Schwächen des Buches auszumerzen, hätte es einer geschickten Personenregie bedurft. Aber Gil Mehmert zeichnet in Personalunion sowohl für das Buch als auch für die Regie verantwortlich. Und das ist das Problem. Denn wo seinem Buch der emotionale Spannungsbogen fehlt, setzt er auch als Regisseur nicht an. Die Charaktere entwickeln sich im Verlauf der Handlung kaum weiter, der Plot plätschert seicht vor sich hin – da reißen auch die gelungenen, wenn auch manchmal arg kitschigen Songtexte von Frank Ramond nichts mehr raus.

Optisch macht „Das Wunder von Bern“ dagegen ordentlich etwas her, denn das Bühnenbild ist sehr aufwändig und detailliert gestaltet. Ob nun das teilbare Haus der Familie Lubanski, das Haus von Sportreporter Ackermann, die Kneipe von Mutter Lubanski, der Essener Hauptbahnhof, das Fußball-Trainingslager Grünwald oder das Hotel der deutschen Nationalmannschaft – hier wird viel Abwechslung geboten und viel gezeigt. Alle Umbauten geschehen dabei vollautomatisiert. Die Bande am Spielfeldrand, der Aufzug des Bergwerks, ein Kaninchenstall – alles im Bühnenboden versenkbar. Und die größeren Bühnenelemente werden von den Seitenbühnen hineingefahren. Unterstützt wird die Szenerie durch ein sehr gutes Lichtdesign und eine aufwändige Projektionstechnik, die immer wieder passende Hintergründe aus dem Ruhrpott und der Schweiz zeigt und die schwarzen Aufbauten links und rechts der Bühne in Häuser oder das Fördergerüst eines Bergwerks verwandelt.

Gegen all diesen Bühnenbildbombast können die Darsteller kaum anspielen, denn das Publikum wird geradezu erschlagen von der optischen Opulenz. Dennoch überzeugt Vera Bolten in der Rolle der Christa Lubanski als starke Ehefrau, die zwölf Jahre auf die Heimkehr ihres Mannes gewartet und in der Zwischenzeit allein für ihre Familie gesorgt hat. Mit „Wunder gescheh’n“ darf sie zudem eine gut ins Ohr gehende Nummer singen.

Mit sonorer Stimme und starker Bühnenpräsenz gibt Detlef Leistenschneider den Kriegsheimkehrer und Familienvater Richard Lubanski. Einen ersten großartigen Moment hat Leistenschneider aber nicht etwa mit einer musikalischen Nummer, sondern in einer Szene im Bergwerk, in der Richard von Kriegserinnerungen übermannt wird. Später dann ist es eine Szene, in der Richard von seiner Zeit im russischen Straflager erzählt, in der Detlef Leistenschneider eine grandiose schauspielerische Leistung zeigt. Auch das Zusammenspiel mit dem kleinen Riccardo, der bei der Medienpremiere als Matthias Lubanski auf der Bühne steht, gelingt außerordentlich gut. Lediglich Richards Entwicklung vom Kotzbrocken, der viel zu lange nicht zu Hause war und mit den Veränderungen in seinem Leben nicht zurechtkommt, zum plötzlich treusorgenden Vater erschließt sich nicht wirklich, weil es doch sehr plötzlich kommt. Ein Umstand, der jedoch eher dem Buch als dem Künstler anzulasten ist.

Marie Lumpp gibt Ingrid Lubanski sehr sympathisch und mit jugendlicher Leichtigkeit, doch die dankbarere Rolle hat David Jakobs als Bruno Lubanski inne. Er überzeugt schauspielerisch als alles hinterfragender Revoluzzer sowie gesanglich mit der Nummer „Rock’n’Roll Rebel“. Herrlich im Zusammenspiel sind darüber hinaus Andreas Bongard als Paul Ackermann und Elisabeth Hübert als Annette Ackermann. Während Bongard den ehrgeizigen Sportreporter sehr solide und authentisch spielt, verzaubert Hübert vor allem mit komödiantischem Timing und grandioser Mimik. Außerdem kann sie in zwei Songs, die – nebenbei bemerkt – die Handlung jedoch nicht voranbringen, auch ihr gesangliches Können einmal mehr unter Beweis stellen.

Sehr sympathisch in der Nebenrolle des Pfarrers und einigen weiteren kleinen Rollen agiert Tetje Mierendorf, der ebenfalls einen überflüssigen Song zu singen hat. Dass es nämlich ausgerechnet das Gespräch mit einem Pfarrer ist, das Richard die Augen öffnet, kommt mehr als unglaubwürdig über die Rampe. Weiter positiv zu erwähnen sind aufgrund ihres schauspielerischen Könnens Dominik Hees als Helmut Rahn, Dennis Henschel als Berni Klodt und Michael Ophelders als Sepp Herberger.

Doch was wäre ein Musical ohne Musik! Für diese zeichnet Martin Lingnau verantwortlich, der im Auftrag von Stage Entertainment schon die eingängige Musik zu „Der Schuh des Manitu“ und „Droomvlucht“ komponierte. Auch für „Das Wunder von Bern“ hat er wieder einen schönen abwechslungsreichen Score erschaffen, der die Geschichte und all ihre Figuren wunderbar trägt. Dabei wechseln sich Balladen wie das bereits erwähnte „Wunder gescheh’n“ mit flotten Nummern wie das ebenfalls erwähnte „Rock’n’Roll Rebel“ ab, ergänzt durch weitere eingängige Nummern verschiedenster Stilrichtungen und einen spannenden filmmusikähnlichen Underscore im Finale.

Hörenswert umgesetzt werden all diese Nummern von einem exzellent aufspielenden, wenn auch von Keyboards dominierten, Orchester unter der versierten Leitung von Christoph Bönecker, der nicht nur den Taktstock schwingt, sondern auch selbst in die Keyboard-Tasten haut. Großartige Arbeit hat zudem Simon Eichenberger geleistet, der äußerst sehenswerte und flotte Choreografien entwickelt hat. Vor allem die Trainingseinheiten der Nationalmannschaft erweisen sich als echte Hingucker.

Und der Schluss? Vorhersehbar. Natürlich wird Deutschland 1954 Fußball-Weltmeister und natürlich schießt Rahn das entscheidende Tor – das Publikum der Medienpremiere feiert das mit frenetischem Applaus. Zwar wurde das Rad nicht neu erfunden, aber mit den Fußballspielern, die waagerecht an der Projektionswand hoch- und runterlaufen und dem Publikum das Finalspiel so aus der Vogelperspektive präsentieren, wurde auch hier nicht gekleckert, sondern geklotzt.

Insgesamt bietet „Das Wunder von Bern“ in der Musicalversion sowohl Licht als auch ganz viel Schatten. Ein großes Plus sind die Musik und die fantastischen Darsteller, doch als negative Ausreißer erweisen sich Buch und Regie. Über diese Schwächen kann auch das ausladende Bühnenbild nicht hinwegtäuschen. Generell ist weniger oft mehr – und im neuen Hamburger Theater hätte man besser Technik gegen Emotionen eintauschen sollen. Weniger Bühnenbildbombast, etwas mehr Tempo im Handlungsverlauf, eine stringentere Personenregie und vor allem einige gestrichene Szenen und Songs würden diesem Musical gut tun. Dann hätte Hamburg vielleicht sein neues Musical-Wunder. Aber so? So wird das nichts.

Text: Dominik Lapp

Avatar-Foto

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".